Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
Vergangenheiten haben und sich so zu verschiedenen Personen in einem Körper entwickeln:
Stefanie: heiter, verspielt, optimistisch und manchmal trotzig.
Nicki: ängstlich, ernst, tief depressiv, stumm.
Hin und wieder näherte sich auch noch das Wesen, das einmal hätte Angela werden sollen. Sozusagen von ferne schaute sie vorbei. In ruhigen Momenten ohne drohende Gefahr. Aber das wurde immer seltener – immer häufiger drohte Gefahr. Sie hatte den ersten Anstoß gegeben: den schöpferischen Akt, sich abzuwenden von der Wirklichkeit, einen neuen Namen und eine Aufgabe hinterlassend.
Und den Auftrag an alle, die nach ihr kommen würden, es genauso zu machen.
Nach der ersten massiven sexuellen Misshandlung folgten endlose Wochen, immer gleich in ihrer Qual für Nicki. Abends, wenn der Vater aus der Bank nach Hause kam, brachte er neues Spielzeug für sich mit. Das probierte er aus an Nicki, wenn er sie ins Bett brachte. Denn die Tochter ins Bett zu bringen, war seine Aufgabe, nicht die der Mutter, die sich währenddessen dem Sohn zuwandte.
Manchmal wachte der Vater auch mitten in der Nacht auf. Manchmal stand das Kinderbettchen im Schlafzimmer. Direkt neben dem Ehebett.
»Kann man hier nicht mal ruhig schlafen«, zischte die Mutter. Hin und wieder. Meistens aber drehte sie sich einfach zur anderen Seite.
1962
Die Kuba-Krise beginnt
Marilyn Monroe wird tot aufgefunden
Franz Josef Strauß tritt wegen der Spiegel-Affäre zurück
Adolf Eichmann wird in Israel hingerichtet. Er stirbt, ohne Reue zu zeigen
Im Fernsehen »Das Halstuch«, im Kino »Lolita«
Deutsche Hitparade: »Babysitter-Twist« und »Big Girls donʼt cry«
Tabu
Der Körper ist anderthalb Jahre, ein pausbäckiges Baby, das auf den Fotografien wie eine kleine Puppe wirkt, hübsch, adrett herausgeputzt und seltsam erstarrt, den Blick meist abgewandt, gleichgültig oder verschlossen. Zu diesem Zeitpunkt beschließt der Vater, dem Besonderen, das ihn mit seiner Tochter verbindet, einen Koitus hinzuzufügen.
Die Verletzung ist so tief, die Blutung so stark, dass die Eltern nach einigen Tagen einen – befreundeten – Arzt hinzuziehen. Aber auch dieser kann nur raten, das Kind ins Krankenhaus zu bringen. Die Kleine hätte das selbst gemacht, mit Spielzeug gespielt, ungeschickt wie sie nun mal sei, aus dem Bettchen gefallen, auf einem Brummkreisel gelandet, so erklären die Eltern dem Personal die erschreckende Wunde. Schwestern und Ärzte schütteln den Kopf, mitfühlend: Ja, was Kinder so machen, nur Sorgen hat man mit ihnen.
Eine solche Wunde, und niemand stellt argwöhnische Fragen? Dies ist das Jahr 1962. Falls sich eine Ahnung eingeschlichen hätte bei irgendeiner misstrauischen Krankenschwester, einem aufmerksamen Arzt, eine Vermutung, dass vielleicht nicht alles so geschehen war, wie die Eltern es darstellten, wie hätte man darüber sprechen können? In welchen Worten? Dieses Thema ist tabu – und wird es noch zwei Jahrzehnte bleiben. Was soll man tun? Am besten, denkt der Arzt, man konzentriert sich vollkommen auf seine Aufgabe, denn am meisten hilft man dem Kind doch, wenn man es ganz professionell behandelt.
Nicki im Krankenhaus.
Das ist mehr, als sie ertragen kann. Die vielen Menschen. Neue Schmerzen, als sie genäht wird. Nicki kann nur mit dem Vater umgehen, der da zu Hause zu ihr kommt, nachts oder auch am Tag, der ihr Angst und Schmerzen bereitet. Aber dies hier kann sie nicht, das ist zu viel.
Da sieht sie die Lampe. Die ist über Nickis Kopf an ihrem Krankenhausbett befestigt. Und eine Kordel mit einer großen, runden, weißen Perle hängt daran herunter, auf Nicki zu. Die Perle schaukelt hin und her. Hin und her. Hin und her. Hin und her. Und Nicki mit ihr. Und dann ist Nicki auf einmal verschwunden. Irgendwo im Inneren. Sicher. Aber auch allein.
Zurück bleibt Susi. Plötzlich ist sie da.
Wer ist sie, und was hat sie?
Sie hat einen Namen: Susi. Vielleicht noch nicht von Anfang an, aber schon bald. Sie besitzt die Fähigkeit, ihre Umgebung wahrzunehmen. Sie hat keine Vergangenheit, keine Geschichte. Sie weiß nicht, wo sie ist und warum. Nicht, wie sie hierhergekommen ist. Sie fragt sich auch nicht danach, ist ja noch viel zu klein. Sie hat keine Eltern, keine Familie. Aber sie hat eine Aufgabe: den Schmerz und die Einsamkeit im Krankenhaus zu ertragen. Tapfer erfüllt sie ihre Aufgabe. Sie kennt nichts anderes. Wann immer der Körper in Zukunft so stark verletzt wird, dass ein Arzt oder das Krankenhaus erforderlich werden,
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