Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
Schutz. Er rettete ihr das Leben.
Anfangs bekam sie noch mit, was dort in dem Bett passierte. Irgendwie von oben. Aus der sicheren Insel im Licht. Aber es war, als ob eine andere das erdulden musste. Nicht sie. Ein fremdes Kind in ihrem Bett.
Weiter und weiter entfernte sie sich. Bis sie schließlich gar nicht mehr sah, was dort geschah. So sollte es sein. Dass das nicht ihr passiert. Dass es gar nicht passiert.
Sie hatte das geschafft, indem sie abgetaucht war in unerreichbare innere Räume, verschwunden in einer eigenen Welt, in der ihr nichts geschehen konnte, wo niemand ihr etwas antun konnte. Vorraussetzung für diesen Rückzug aus der Wirklichkeit war die Fähigkeit zu dissoziieren, abzuspalten. Das Sein vom Bewusstsein zu trennen. Und das Bewusstsein zu teilen in wissende und unwissende Bereiche.
Niemand hatte ihr das beigebracht, ganz allein war sie auf diese Möglichkeit gestoßen, sich in selbstinduzierte Trancezustände zu versetzen.
So wie Lewis Carrols »Alice« ihr Wunderland entdeckte, indem sie einem hektischen weißen Kaninchen mit einer großen Taschenuhr folgte und in ein geheimes Loch in einem alten Baumstamm stürzte. Und tief hinabfiel. So tief. Bis in eine andere, fremde Welt.
Angelas innere Welt war noch sicherer als die von Alice. Hier gab es keine verrückten Hutmacher und keine bösartigen Königinnen.
Einstweilen.
So verschwand das Wesen, das einmal hätte Angela werden wollen.
Zurück blieb Nicki.
Plötzlich war Nicki da.
Wie sie hergekommen war, wusste sie nicht. Ein Mann machte sich an ihr zu schaffen. Es tat weh. Er guckte komisch. Er machte ihr Angst. Er sollte aufhören. Sie weinte. Er schlug sie.
»Das ist unser Geheimnis«, flüsterte er, »etwas ganz Besonderes. Darüber darfst du niemals sprechen.«
Nicki konnte kaum sprechen. Und mit wem auch? Außer dem Mann, von dem sie plötzlich wusste, dass er ihr Vater war, sah sie nie jemanden.
Nicki lebte ein Leben ohne Trost. Sie erschien immer nur, wenn der Vater sie sexuell benutzte. Dann da zu sein, war ihre Aufgabe. Sie hatte keine Ahnung, dass es überhaupt etwas anderes gab.
Dies war das Leben.
Das war es, woraus Nicki damals bestand: ein Gefühl, eine Funktion und irgendwann dann auch ein Name. Die Funktion war, das Wesen, was einmal hätte Angela werden sollen, vor der Wahrheit zu schützen. Ihr abzunehmen, was diese nicht ertrug.
Immer wenn Nicki da war, tat der Vater ihr weh.
War er fertig, verschwand sie wieder.
Dann tauchte Stefanie auf, ein zufriedenes, munteres Mädchen, das nichts wusste von dem, was Sekunden vorher geschehen war. Ein Mädchen, das den Papa von ganzem Herzen liebte, mit ihm schmuste und lachte und alberte. Vergnügt und übermütig. Das nur seine hellen, freundlichen Seiten kannte. Das sehnsüchtig auf seine Rückkehr wartete, sich über seine Geschenke freute und vergnügt quietschte, wenn er es kitzelte. Das ihn anstrahlte. Stefanie wurde abends liebevoll von ihm zugedeckt und bekam einen zärtlichen Gutenachtkuss. Manchmal spürte sie ein wenig, dass ihr etwas wehtat oder sie so nass war. Aber dann schlief sie immer sehr schnell ein.
Manchmal träumte sie schlecht.
Aber das waren nur Träume.
So entstand eine geteilte Wirklichkeit. Angelas Leben war derart widersprüchlich, erschreckend und bedrohlich, dass eine Wahrnehmung allein damit nicht fertig werden konnte. Stefanie blieb von der sexuellen Gewalt verschont. Nicki erlebte die freundlichen Seiten des Vaters nicht. Sie verschwand, beiseitegedrängt von Stefanie, sobald der Vater liebevoll und friedfertig wurde.
Die körperlichen Folgen müssen zu diesem Zeitpunkt schon derart auffallend gewesen sein, dass der Vater die Teilnahme der Tochter an den gesetzlichen Impfungen verhinderte. Gleich drei Begründungen gab er in seinem Brief an: Ein Privatarzt würde die Tochter impfen, man würde umziehen, und außerdem hätte die Tochter gerade den Keuchhusten.
In der ersten Zeit wechselten Stefanie und Nicki sich ab, aber sie begegneten einander nie, kannten sich nicht. Wussten nichts voneinander.
Was sie am Anfang waren? Am ehesten vielleicht Momentaufnahmen von Befindlichkeit, von Gefühlen. Zustände, die allmählich ein Bewusstsein entwickelten, zu Persönlichkeiten wurden – durch ihre Erfahrung von Zeit, von Begegnung, von Gefühl. Die ihre unterschiedlichen Erinnerungen getrennt ablegten, vielleicht sogar in verschiedenen Ecken des Gehirns, wie durch Membranen voneinander getrennt. Die daher ganz unterschiedliche
Weitere Kostenlose Bücher