Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
kurze Zeit fortgegangen, und gleich kämen sie wieder. Genau, so musste es sein: Gleich stehen sie vor der Tür, und alles klärt sich auf.
Aber wieso kam ihr dann überhaupt nichts bekannt vor? Sie musste sich doch umgeschaut haben, bevor sie einschlief. Ihr Mantel musste an der Garderobe hängen, Kleidung, Sachen, vielleicht ein Koffer von ihrer Mutter, ihrem Bruder mussten hier irgendwo sein.
Egal.
Nicht darüber nachdenken.
Langsam öffnete sie alle Türen der Wohnung. Viel Spielzeug und Kinderkleidung, hier gab es also auch Kinder. Zwei Zimmer schienen einem großen und einem kleinen Kind zu gehören, wildes Durcheinander in beiden. Das sollte ihre Mutter mal sehen.
In einer Ecke bewegte sich etwas. Ein Hund! Sie rannte zur Tür, wollte wieder flüchten. Im Treppenhaus wurde ihr bewusst, dass der Hund sehr ruhig war. Er hatte nur kurz hochgeschaut, als sie das Zimmer betrat, geschnauft und die Schnauze wieder auf die Pfoten gelegt. Zaghaft ging sie zurück, spähte um dieEcke und blickte in seinen Blick. Es war ein junger Boxer, er wedelte mit seinem kurzen Schwanz, stand auf, gähnte, reckte sich und kam auf sie zu. Sie hielt ihm die Hand hin, und er leckte daran. Toller Wachhund, dachte sie, kennt mich nicht und schließt gleich Freundschaft.
Als sie sich überzeugt hatte, dass außer dem Hund und ihr niemand in der Wohnung war, verschloss sie die Wohnungstür und richtete sich ein. Öffnete Schränke, zog Schubladen auf, nahm Bücher in die Hand.
Es war, als versuchte sie, Pflöcke einzuschlagen in die Wirklichkeit. Aber die Wirklichkeit sackte weg wie Treibsand.
Nichts trug.
Im Schlafzimmer fand sie einen Umschlag mit Fotos, Familienaufnahmen. Eine Frau mit langen blonden Haaren – war es die vom Poster im Flur? Drei Kinder, eines davon eigentlich zu alt, um ein Kind der Frau zu sein. Hinter ihnen ein älterer Mann, die Ärmel hochgekrempelt. Zupackend, beschützend sah er aus. Alle vollkommen fremd. Die Panik kam wieder.
»Papi«, dachte sie, »hilf mir doch.« Er hatte ihr immer geholfen. Gegen die Mutter, den Bruder. Sie hatte ihn so lieb gehabt. Gestern war er beerdigt worden. Das war das Ende ihrer wunderbaren Kindheit. Jetzt musste sie allein mit der Mutter und dem Bruder zurechtkommen. War einer Frau ausgeliefert, die sie schikanierte, und einem Bruder, der sich immer mit der Mutter verbündete. Ihr Vater hatte sie im Stich gelassen, und sie war doch gerade erst dreizehn.
Er war tot. Jetzt sah sie wieder den Sarg vor sich und das Grab, in das sie gestern geschaut hatte, spürte Einsamkeit, Angst, Verzweiflung. Sie stand in der fremden Wohnung, und die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Eine Hand drückte ihr die Kehle zu. Sie ließ sich auf das Bett fallen und weinte ihre Trauer in die fremden Kissen. Denn nun war niemand mehr da, der sagte, reiß dich zusammen. Wie gestern, am Grab. Da hatte sie nicht weinen dürfen.
Gestern: Unter der Erde
Schwarze, nasse Erde poltert auf den polierten Eichensarg. Das Geräusch dröhnt in ihrem Kopf nach. Es ist, als würde man ihr die Erde auf den Kopf werfen. »Jetzt bin ich dran«, denkt sie. Nun soll sie ihre rosa Babyröschen hinterherwerfen. »Ich kann nicht. Will weg.« Sie schaut in die kahlen Äste der Bäume und versucht, sich fortzudenken.
Fort von der Mutter, deren vorgetragenen Kummer sie nicht glaubt, weil sie es besser weiß. Mutter, wie sie neben ihr steht, gramgebeugt und damenhaft zugleich. Wie sie weint, weil sich das eben so gehört bei der Beerdigung des eigenen Mannes. Mutter, die immer alles gerade so tut, wie es sich gehört. Draußen, wo man sie sehen kann.
Fort von dem Bruder, der neben ihr steht und Leid heuchelt, aber froh ist über den Tod des Vaters. Nun ist er das Oberhaupt der Familie, jetzt muss man ihm gehorchen.
Fort von dem Pastor, wie er dort steht in seiner schwarzen Kutte und über das junge Leben redet, das von uns genommen wird – fünfundvierzig Jahre ist der Papi nur geworden – und über Gottes Ratschluss, dass der manchmal unbegreiflich ist, dass wir ihn aber annehmen müssen. Salbungsvolles Zeug, denkt sie, der hat ja keine Ahnung.
Nun zitiert er noch aus der Bibel: »In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.« Das kann man wohl sagen, denkt sie, und jetzt liegt Papi da unten, hat mich im Stich gelassen. Und ich bin doch erst dreizehn. Er ist weg, weg, in seinem Sarg, Deckel zu, er ist ganz sicher, niemand kann ihm etwas tun. Und wieder versucht sie sich
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