Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
fortzudenken von ihrer Angst.
Wie gelähmt hatte sie zugesehen, als der Vater in das dunkle Loch hinuntergelassen wurde, aus dem es feucht und erdig riecht. »Er ist da gar nicht drin«, hatte sie gedacht, »deshalb haben sie mich auch nicht in den Sarg gucken lassen. Er ist gar nicht tot. Es ist nur eine Strafe. Vielleicht hat er etwas verraten. Nachherholen sie ihn wieder raus und lachen und tun, als wäre nichts gewesen. Gleich steht er neben mir, nimmt mich in den Arm, ich habe keine Angst mehr, und alles wird gut.«
Aber nichts wird gut, sie wirft ihre Blumen, und ihre Angst nimmt zu. Dann stehen sie in einer Reihe, die Familie, während die Männer an ihnen vorbei gehen, ihnen die Hände schütteln oder sie auch umarmen. Etwa 200 sind es, eine lange dunkle Kette, die an ihnen vorüberzieht. Viele von denen kennt sie von Besuchen, Feiern oder von Urlaubsfotos aus Dutzenden von Alben, die ihre Mutter mit penibler Sorgfalt angelegt hat – an die Urlaube selbst kann sie sich kaum erinnern. Und sie kennt sie von Geburtstagen, besonders von ihrem eigenen. Es war immer etwas Besonderes, wenn sie kamen, ihr Vater freute sich, und ihre Mutter machte Schnittchen.
Das Merkwürdige war nur, dass sie sich nie erinnern konnte, was die Männer ihr zum Geburtstag schenkten. Wie oft hatte sie sich darüber den Kopf zermartert. Und die Spiele, die sie spielten. Sie hatte sie immer vergessen. Aber sie waren bestimmt sehr schön gewesen, denn der Papi war guter Laune und sagte stets, was für ein toller Geburtstag das doch wieder gewesen sei. Und der sagte immer die Wahrheit.
Natürlich ist es ihre Schuld, dass sie sich nicht erinnern kann. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Das hatte sie schon oft bemerkt. Und ihre Mutter sagt das ja auch. Vielleicht hat sie ja recht. Etwas fehlt. Sie macht etwas falsch. Wahrscheinlich muss sie sich einfach noch mehr zusammennehmen. Noch mehr anstrengen. Noch mehr aufpassen.
Aber immerhin weiß sie ganz genau, dass einige der Männer, die hier am Grab ihres Vaters stehen, mit ihr Geburtstag gefeiert haben. Früher. Als sie klein war. In den letzten Jahren dann nicht mehr.
Oder doch?
Wie war ihr letzter Geburtstag eigentlich gewesen? Unwichtig, beschließt sie, denn es fällt ihr nicht ein.
Aber an ihren sechsten Geburtstag kann sie sich noch genau erinnern. Warum, weiß sie nicht. Es musste etwas Besonderes geschehen sein. Vielleicht war ihr damals zum ersten Mal aufgegangen, dass sie sich nie merken konnte, was man ihr zum Geburtstag schenkte. Wenn sie das bloß rauskriegen könnte, hatte sie gedacht. Was das war, was ihr die Männer immer zum Geburtstag schenkten. Denn es musste etwas richtig Tolles sein. Jedenfalls behaupteten die Männer das.
Damals, am sechsten Geburtstag, hatte sie sich vorgenommen ganz genau aufzupassen.
Vorgestern: Fabelhafte Geburtstagsfeste
»Ich hab dir wieder was Wunderhübsches mitgebracht, mein Engelchen«, sagt der große Mann in dem kratzigen Mantel, als er sich zu ihr herunterbeugt, sie mit einer Hand hochhebt und auf der anderen reiten lässt. »Hoppe, hoppe, Reiter, wenn sie fällt, dann schreit sie«, singt er dabei.
Sie bekommt gerade noch mit, wie ihre Mutter sich den Persianer überzieht, vor dem Spiegel lächelnd die frische Dauerwelle zurechtzupft, etwas Parfum aus dem funkelnden Flakon hinter beide Ohren tupft, »schönen Abend noch« sagt und die Haustür hinter sich zuzieht.
Dann ist die Mutter verschwunden und dieser Geburtstag auch schon wieder vorüber, und sie erfährt nicht, was die Männer ihr diesmal Tolles mitgebracht haben.
So ist es immer.
Dabei hatte der Tag so schön angefangen.
Papi hatte sich freigenommen, um den sechsten Geburtstag mit ihr zu feiern. Er hatte ihr ein Märchenbuch geschenkt und ein Schottenkleid mit einem ganz weiten kurzen Röckchen. Das musste sie gleich anprobieren und sich auf dem Tisch vor ihm drehen.
»Mein Engelchen«, sagte er, und da ärgerte sich die Mutter. Dann haben sie die Mutter noch mehr geärgert. Das ist immer das Tollste.
Vor der Mutter hat sie viel Angst, die schlägt sofort zu, wenn ihr irgendetwas nicht passt. Manchmal haut sie auch ganz ohne Grund. Dann muss man schnell sein und ausweichen. Das hat sie inzwischen gelernt. Denn die Mutter schlägt immer nur einmal. Wenn man flink ist und geschickt ausweicht, hat man Glück gehabt. Und Pech zugleich, denn dann vergeht die Zeit meist wieder so schrecklich sprunghaft, plötzlich ist es Abend, ohne dass man es gemerkt hat.
Aber wenn
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