Vater Unser in der Hölle: Durch Missbrauch in einer satanistischen Sekte zerbrach Angelas Seele (German Edition)
ihr ein Gefühl von Sicherheit. Jetzt würde alles gut werden. Wenn sie sich weiterhin so anstrengte, konnte sie die Kontrolle über ihr Leben erlangen.
Dann kam der Morgen des 9. Juni 1975. Es war ein Montag. Wie an jedem Morgen holte sie sich die Tageszeitung, die ein Bote schon gegen sechs Uhr früh vor die Tür gelegt hatte. Dann schaute sie auf die Weckeruhr und trug »Montag, 9.6.75, 7.30 Uhr« auf dem neuen Blatt ein.
Dann blätterte sie zur vorigen Seite zurück. Dort stand »Freitag, 6.6.75, 7.40 Uhr«.
Klebten zwei Seiten zusammen? Sie versuchte, die Seiten voneinander zu lösen. Aber da waren keine weiteren Seiten. Der Freitag stand auf der Rückseite vom Montag.
Sonnabend und Sonntag waren verschwunden.
Hatte sie vergessen, sie einzutragen?
Nein, sie setzte sich jeden Morgen, nachdem sie aufgewacht war und sich angezogen hatte, sofort an den Schreibtisch und schrieb Tagebuch. Sie hatte es noch kein einziges Mal vergessen.
Was war am Wochenende passiert? Keine Ahnung.
Was war ihre letzte Erinnerung?
Freitag war sie aus der Schule gekommen mit einer schlechten Note in Englisch. Sie war schwimmen gewesen, hatte das Abendessen für die Mutter und den Bruder gemacht. Und sie hatte von der Englischarbeit erzählen müssen. Die Mutter hielt das Heft mit der Fünf in der Hand. Das war die letzte Erinnerung.
Das war der Freitagabend.
Wann war sie ins Bett gegangen? Sie wusste es nicht mehr. War sie überhaupt ins Bett gegangen? Keine Ahnung.
Das Wochenende hatte nicht stattgefunden.
Hatte es vielleicht für alle anderen auch nicht stattgefunden? Die Mutter konnte sie nicht fragen. Die glaubte sowieso, dass ihre Tochter verrückt war. Vielleicht war sie es ja auch. Aber in der Schule könnte sie fragen: Was hast du denn am Wochenende gemacht? Ganz harmlose Frage. Unverfänglich. Das war gut. Dann würde sie ja merken, was die anderen sagen. Dabei konnte nicht viel passieren.
»Was ich am Wochenende gemacht hab? Spinnst du? Ich hab Geburtstag gefeiert. Und du warst eingeladen!«
Das Wochenende hatte stattgefunden.
Aber ohne sie.
Immer wieder entdeckte sie von nun an diese Lücken in ihrem Tagebuch. Tage, die verschwunden waren. Die es gegeben hatte. Aber nicht für sie. Sie lernte, dass es besser war, nicht danach zu fragen, die anderen überhaupt nicht darauf anzusprechen. Weder die Mutter noch die Mitschülerinnen. Denn denen fiel offenbar gar nichts auf. Sie bemerkten es noch nicht einmal, wenn sie mitten im Unterricht verschwand. Denn auch das passierte: Morgens ging sie zur Schule, setzte sich an ihren Platz, die Lehrerin betrat die Klasse, es klingelte, alle standen auf und gingen nach Hause. Und sie hatte den ganzen Unterricht verpasst. Aber die anderen taten, als hätten sie nichts gemerkt.
Wahrscheinlich hatten sie wirklich nichts gemerkt. Das bedeutete also, dass sie weiterhin an ihrem Platz saß, es aber nicht mitkriegte. Vielleicht war das so eine Art Ohnmacht? Es schien auch, als ob sie sich irgendwie am Unterricht beteiligte, denn sonst hätte die Lehrerin sicher etwas gesagt. Oder die anderen. Aber sie taten, als sei alles vollkommen in Ordnung.
Schließlich richtete sie sich damit ein, dass diese Zustände wohl so etwas wie Schlafwandeln waren. Sie tat etwas, bekam es aber nicht mit. Mit niemandem durfte sie darüber sprechen. Man würde sie für verrückt erklären.
Sie war unendlich einsam.
Viele Jahre lang.
Denn Traute wusste nur von ihren Blackouts, von den Zeiten, die ihr fehlten, die im Nichts versackt waren. Dass jemand anders in diesen Phasen weitergelebt hatte, dass sie ihr Leben mit anderen Personen teilen musste, davon ahnte sie nichts.
Womit Stefanie dreizehn Jahre ihres Lebens verbrachte hatte: sich an die Lücken und Verwunderlichkeiten des Lebens zu gewöhnen und sie meisterhaft zu überspielen, das musste Traute mühsam von neuem erlernen. An nichts konnte sie anknüpfen, denn Stefanie war fort, sie lag im Grab ihres Vaters. Und dort würde sie achtzehn Jahre lang bleiben. Mit ihr waren auch Frohsinn und Leichtigkeit verschwunden. Während Stefanie sich um Spaß und Vergnügen bemüht hatte und möglichst alles wegschob, was unheimlich war, sich konsequent für heute, aber nicht für gestern interessierte, war Traute sorgenvoll, depressiv, kaum belastbar. Sie spürte den Zusammenhängen nach, wollte wissen, warum sie so anders war. Ihre Aufgabe würde es werden, das Leben der Angela Bahr zusammenzufügen. Wie aus einem tiefen Brunnen, mühsam, musste sie es
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