Vater unser
passt sich jeder neuen Situation perfekt an. Er ist eine andere Art von Simulant. Besser gesagt, eine andere Art von Mensch.
« Hervorragend», sagte Farley.
« Frau Staatsanwältin? Sind Sie ebenfalls bereit? Oder stimmen Sie Dr. Koletis’ Meinung zu, dass der Angeklagte prozessunfähig ist?»
« Auf keinen Fall, Euer Ehren. Dr. Barakats Bericht belegt eindeutig, dass der Angeklagte prozessfähig ist.»
« Na schön, fangen wir also an. Rufen Sie Ihren ersten Zeugen auf.»
« Euer Ehren, die Anklage wartet noch auf einen Kollegen aus der Rechtsabteilung, der bereits unterwegs ist ...»
« O nein, Ms. Valenciano. Wenn Sie unbedingt in der Oberliga spielen wollen, dann sind Sie jetzt am Ball. Rufen Sie Ihren ersten Zeugen auf.»
« Richter, soweit ich weiß, gilt ein Angeklagter vor dem Gesetz Floridas so lange als prozessfähig, bis die Verteidigung das Gegenteil bewiesen hat», protestierte Julia.
« Die Last der Beweisführung liegt dementsprechend bei der Verteidigung.» Wenn Levenson mit seinen Zeugen anfing, würde das Rick oder der Rechtsabteilung noch ein wenig mehr Zeit verschaffen. Lat könnte ihn dort abholen, wo auch immer er gerade war, und hierherbringen. Dann wäre alles wieder in Ordnung.
« Netter Versuch, Frau Staatsanwältin. Die Bundesgerichte interpretieren die Verfassung der Vereinigten Staaten jedoch dahin gehend, dass nur gegen prozessfähige Personen Anklage erhoben werden darf. Besonders in jenen Fällen, in denen auf die Todesstrafe plädiert wird. Also liegt die Beweislast eindeutig auf der Seite der Staatsanwaltschaft.» Farley grinste verschlagen.
« Willkommen in der ersten Liga, Ms. Valenciano. Und jetzt rufen Sie bitte Ihren ersten Zeugen auf.»
KAPITEL 50
JULIA HATTE keine Wahl. Sie durfte nicht zulassen, dass David Marquette für prozessunfähig erklärt wurde und die nächsten Monate oder vielleicht sogar Jahre in irgendeiner Privatklinik verbrachte. Das wäre das Ende ihres Falles. Sie hatte Ricks Warnung im Ohr: Denk daran, Julia, die Zeit arbeitet immer gegen uns. Die Entscheidung über die Prozessfähigkeit eines Angeklagten fällte der zuständige Richter, was bedeutete, dass Julia alles in ihrer Macht Stehende tun musste, um Farley von Marquettes Prozessfähigkeit zu überzeugen. Und sie traute es Farley durchaus zu, dass er Marquette eine psychiatrische Behandlung verordnete, nur um ihr eins auszuwischen. Sie atmete tief durch.
« Die Staatsanwaltschaft ruft Dr. Barakat in den Zeugenstand», sagte sie, obwohl sie nicht einmal wusste, ob Dr. Barakat schon anwesend war. Die Staatsanwälte in den Zuschauerreihen begannen, miteinander zu flüstern. Der Gerichtsdiener ging hinaus in den Flur, und kurz darauf betrat Dr. Barakat in anthrazitfarbenem Maßanzug und taubenblauem Hemd den Zeugenstand und wurde von einer errötenden Ivonne vereidigt. Er setzte sich und begrüßte Julia mit einem Nicken, war jedoch offensichtlich verwirrt, sie anstelle von Rick am Tisch der Staatsanwaltschaft zu sehen. Julia hatte noch nie einen psychiatrischen Gutachter in den Zeugenstand gerufen. Oder sonst einen Mediziner. Ihre Erfahrungen mit Gutachtern beschränkten sich auf einen Archivar, einen Wartungstechniker von Alkoholmessgeräten und einen Fingerabdruckspezialisten. Bevor ein Experte seine Meinung vor Gericht kundtun durfte, musste man das Gericht davon überzeugen, dass er tatsächlich ein Fachmann war. Wichtige Passagen über die Qualifikation eines medizinischen Gutachters aus dem Buch Regeln der Beweisführung schossen ihr durch den Kopf, doch leider konnte sie sie nicht festhalten. Sie schlug ihre Gesetzessammlung auf und starrte auf die Kriterien für Prozessfähigkeit laut Paragraph 3.211. Die Worte ergaben plötzlich keinen Sinn mehr, und sie merkte, wie sich der Raum um sie herum auf altbekannte Weise zu drehen begann. Guck mal, Daddy. Guck!», schrie die kleine Emma plötzlich und tanzte in ihrem blutigen Cinderella-Kleid durch den Gerichtssaal. Ihre Haare waren schwarz von geronnenem Blut. Das kleine Gesicht sah aus wie auf den Autopsiefotos – auf doppelte Größe geschwollen, die Lippen blau, das Weiße der Augen rot durch die geplatzten Blutgefäße. Ein sich kräuselnder schwarzer Faden hing an ihrem Hals, den der Gerichtsmediziner nach dem Zunähen nicht abgeschnitten hatte.
Guck mich an, Daddy!», forderte sie mit verzerrtem Schmollmund und drehte sich um die eigene Achse.
Guck, was du mit mir gemacht hast!» Julia biss sich auf die Lippen. Nun lag es an ihr. Sie war der
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