Vater unser
Levenson. Dann wandte er sich zögerlich dem Richter zu und schüttelte dermaßen heftig den Kopf, dass seine feisten Wangen zitterten.
« Nein, bitte entschuldigen Sie, Euer Ehren.»
« Nein, nein, nein», wimmerte plötzlich eine dünne Stimme. Eine Stimme, die Julia nicht erkannte, weil sie sie noch nie gehört hatte. Im Gerichtssaal wurde es totenstill. David Marquette stand auf. Seine Fußfesseln klimperten.
« David», sagte Stan Grossbach eindringlich.
« Setzen Sie sich!»
« Nein, nein, nein ...», wimmerte er und schüttelte den Kopf von einer Seite zur andern. Der Richter wies Grossbach mit einer Handbewegung an, den Mund zu halten.
« Dr. Marquette, möchten Sie dem Gericht etwas sagen? Gibt es etwas, das ich wissen sollte? Ich muss Sie allerdings daraufhinweisen, dass alles, was Sie sagen, gegen Sie verwendet werden kann.» Marquettes Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. Er sah Julia an. Seine hellgrauen Augen waren direkt auf sie gerichtet, doch sie blickten durch sie hindurch.
« Ich habe sie gerettet», sagte er leise, als würde er die letzte Frage beantworten, die sie Dr. Barakat gestellt hatte. Und mit diesen Worten stürzte plötzlich und unwiederbringlich die ganze Welt, die sie kannte, über ihr ein – all ihre Schutzwälle fielen um, einer nach dem anderen wie Dominosteine, bis sie nur noch die beängstigende Wahrheit vor sich hatte. Die grauenhaften Erinnerungen stoben durcheinander wie aufgescheuchte Fledermäuse auf einem dunklen, moderigen Dachboden. Die Geister hatten die Tür aufgestoßen.
D
IE AUTOTÜR wurde geöffnet, und Potter beugte sich zu ihr herab. Im gelben Licht sah sein rundes Gesicht dicker aus als bei Carly im Flur und seine Augen noch verkniffener.
« Julia», begann er seufzend, und Julia roch den Zigarettenrauch in seinem Atem. Sie schluckte das Blut ihrer aufgebissenen Lippe herunter und atmete die kalte Luft ein. Sagen Sie nichts. Bitte, sagen Sie nichts. Geben Sie mir noch ein bisschen Zeit, bevor Sie es aussprechen. Bevor alles anders wird ... Tut mir leid, dass du warten musstest, Schätzchen», begann er mit einem mitfühlenden Lächeln,
aber wir mussten dafür sorgen, dass ...» Doch sie hörte nicht mehr zu. Ihr Blick war auf zwei Polizisten in dunkelblauen Mänteln gefallen, die aus dem Haus getreten waren und langsam den Rasen überquerten. In ihrer Mitte ging ein Mann, der nur ein T-Shirt und Jeans anhatte. Julia schlüpfte an Potter vorbei und rannte auf die Männer zu. Hinter ihr rief jemand, sie solle stehen bleiben, aber sie achtete nicht darauf
Andrew?», schrie sie. Der kalte Wind brannte auf ihren Wangen. Andy?» Als er sich zu ihr wandte, sah sie die hellroten Spritzer auf seinem weißen T-Shirt, das verschmierte Blut im Gesicht und an den Händen, die dunklen Stellen auf seiner Jeans. Zuerst dachte sie, er hätte sich verletzt, doch dann sah sie die Handschellen. Beide Hände waren mit Küchenhandtüchern umwickelt, doch das Blut sickerte bereits durch. Dann gaben ihre Knie nach, und sie sank neben dem Weihnachtsmann zu Boden.
O Gott, was hast du getan? Andy! Was hast du getan?», schrie sie. Was hast du getan?» Der gutaussehende Mann mit dem jungenhaften Gesicht lächelte. Tränen liefen ihm über die Wangen, vermischten sich mit dem Blut und rannen in wässerig roten Schlieren über sein Gesicht.
Ich habe sie gerettet, Juju. Ich habe sie gerettet. Ich musste es tun. Es musste sein.» Als er die blutverschmierten Hände zum Himmel hob, löste er für einen kurzen Moment Panik bei den Uniformierten aus, bis sie seine Arme wieder herunterzerrten. Die Küchenhandtücher fielen zu Boden, und von seinen zerschnittenen Händen tropfte leuchtend rotes Blut.
Halleluja!» Schreiend krallte Julia die Finger in den gefrorenen Boden und wiegte sich langsam hin und her, während der Schnee unter ihr schmolz und ihre Jeans durchweichte. Detective Potter und die anderen Polizisten, die herbeigeeilt waren, um sie festzuhalten, blieben stehen und warfen einander verlegene Blicke zu. Die Uniformierten führten den jungen Mann zu einem Streifenwagen und drückten ihn auf den Rücksitz. Er sah aus dem Fenster und lächelte Julia noch einmal zärtlich zu, bevor der Streifenwagen sich in Bewegung setzte. Dann senkte er den Kopf. Sie hatte ihren Bruder nie wiedergesehen. E IN PAAR Sekunden war es seltsam still im Saal. Dann brach aufgeregtes Gemurmel aus, das zu einem ohrenbetäubenden Brausen anschwoll, bis Richter Farley die Menge wieder zum Schweigen
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