Vater unser
brachte.
« Ich habe meine Entscheidung gefallt», bellte er in das Mikrophon, das vor ihm stand und das er bisher nicht benutzt hatte. Vergebens sah er sich nach etwas um, mit dem er auf den Tisch schlagen konnte, dann warf er dem Gerichtsdiener einen bösen Blick zu.
« Setzen Sie sich und verhalten Sie sich ruhig!», rief Jefferson nervös.
« Keine Telefone, keine Zwischenrufe.» Es wurde wieder leiser im Gerichtssaal, doch die Journalisten ignorierten Jeffersons Warnung und verschickten eifrig Textnachrichten an ihre Redaktion. Erst, als es ganz still war, ergriff Farley wieder das Wort.
« Ich befinde den Angeklagten für prozessfähig. Jetzt müssen wir nur noch ermitteln, ob er zum Tatzeitpunkt auch zurechnungsfähig war. Ich verschiebe den ursprünglichen Prozesstermin um drei Wochen, damit Sie alle genug Zeit haben, das herauszufinden. Herr Verteidiger, holen Sie Ihren Kalender heraus.»
« Ja, Euer Ehren», sagte Levenson und erhob sich.
« Frau Staatsanwältin, ich werde Ihnen entgegenkommen und die ganze Sache auf eine A-Woche legen.» Er bekam keine Antwort.
« Ms. Valenciano? Hallo?» Wie konnte auf einmal alles so klar sein? Als wäre sie in der Zeit zurückgereist, in eine Erinnerung hinein. Eine Erinnerung, die sie so lange verdrängt hatte. Plötzlich hatte sie wieder die kalte Luft in der Nase. Es roch nach Schnee. Und nach brennendem Laub, Fichte und Immergrün, Zigarettenrauch, dem Hauch eines Aftershaves – eigenartigerweise das gleiche, das ihr Vater verwendete – auf dem Rücksitz des Polizeiwagens. Sie hörte das Kreischen der Walkie-Talkies, das Knistern der Zentrale, das aus Hunderten von Mikrophonen auf einmal zu kommen schien, das aufgeregte, nervöse, verstörte Flüstern der Nachbarn, die auf dem Bürgersteig standen, hinter der knallgelben Flatterbandabsperrung. Sie schmeckte das Blut warm und metallisch in ihrem Mund. Und Andrew ...
« Julia? Julia?» Sie spürte die Hand auf ihrer Schulter. Es war Lat.
« Der Richter», flüsterte er und nickte in Farleys Richtung. Über dem Gerichtssaal hing ein merkwürdiges, nervöses Schweigen, als würde jeder im Raum sie mit angehaltenem Atem anstarren. Sie sah sich um, verwirrt, verloren.
« In Ordnung, Euer Ehren», sagte die Leiterin der Rechtsabteilung, erhob sich aus der ersten Reihe und trat vor ans Podium.
« Penny Levine für die Anklage. Vielen Dank, dass Sie Ms. Valencianos Gerichtstermine respektieren. Mr. Bellido hat mich gebeten, dem Gericht zu versichern, dass die Anklage zu jedem Datum bereit sein wird.» Der Richter warf Julia einen finsteren Blick zu, doch dann fuhr er fort:
« Der Prozess wird auf Montag, den sechsten März, verschoben. Das gibt Ihnen allen noch einmal drei Wochen. Berichtsdatum ist Donnerstag, der zweite. Sollte bis dahin nicht einer der Anwälte verstorben sein, werden wir am sechsten mit der Verhandlung beginnen. Ich habe keine Lust, mich auf einen jahrelangen Expertenstreit einzulassen. Ich berufe sowohl Dr. Barakat als auch Dr. Koletis als Gutachter. Wenn Sie noch andere hinzuziehen möchten, lassen Sie es die Gegenseite innerhalb von dreißig Tagen wissen. Keine Überraschungszeugen oder Änderungen in letzter Minute, also tragen Sie Ihr Material zusammen und seien Sie sorgfältig bei Ihrer Planung. Verspätungen werde ich nicht tolerieren. Ich hoffe, es hat mich jeder gehört», schloss er mit einem letzten genervten Blick zum Tisch der Staatsanwaltschaft. Dann segelte Farley an Jefferson vorbei aus dem Gerichtssaal, und hinter ihm brach das Chaos aus.
KAPITEL 55
N UN SPIELTE es keine Rolle mehr, wessen Sperma auf Jennifer Marquettes Nachthemd war, wessen verschmierte Füße in der Nacht über den Teppich gelaufen waren oder wessen Finger die Abdrücke am Fensterrahmen der hübschen Villa auf der Sorolla Avenue hinterlassen hatten. David Marquette hatte die Morde gestanden. Eine Traube Gratulanten stürmte auf Julia zu. Die gleichen Staatsanwälte, die sich nur wenige Stunden zuvor über ihre ungewisse Zukunft das Maul zerrissen hatten, wollten ihr nun die Hand schütteln. Es war der Augenblick, von dem wahrscheinlich jeder Prozessanwalt träumte: in einem Gerichtssaal voller Kollegen, Fernsehkameras und Journalisten aus der ganzen Welt den großen Fall zu gewinnen – oder zumindest die erste Etappe. Doch nicht Julia. Sie hatte Angst, und der Augenblick war belastend, klaustrophobisch, schwindelerregend. Auch wenn der alte Gerichtssaal noch genauso aussah wie vor ein paar Stunden, war alles anders
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