Vater unser
schneller, bis alles außer Kontrolle geriet. Uniformierte, Rettungssanitäter, Detectives, Nachbarn, alle hatten sich auf dem Bürgersteig versammelt und sahen zu, wie sie sich vor Schmerz auf dem gefrorenen Boden wand. Sie steckten verlegen die Hände in die Taschen oder zogen ihre Schals zurecht und warteten darauf, dass jemand etwas unternahm, dass jemand die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte, beendete, obwohl ein Teil von ihnen insgeheim darauf hoffte, sie möge weitergehen. Es lag etwas Faszinierendes darin, andere leiden zu sehen. Die Menschen, die in diesem Moment um Julia herumstanden, konnten an ihrem Leid teilhaben, konnten dabei zuschauen, wie sie unaussprechliche Qualen litt, und waren doch unbeteiligt, bloße Voyeure, die sich auf dem Bürgersteig und in der Einfahrt versammelten und näher und näher kamen, um eine bessere Sicht zu erhaschen.
« Das arme Kind», sagte jemand.
Das ist ja furchtbar!»
Sind die anderen tot, Officer?»
Armes Ding.»
O mein Gott! O mein Gott!»
Kommt das später in den Nachrichten?»
Sind beide tot?»
Was ist denn passiert?»
Arme Julia.» Sie hätte sich am liebsten ganz klein zusammengerollt, sich irgendwo vergraben und geweint, bis die Erde sie verschluckte und sie einfach verschwand. Seltsame Gedankenfetzen schossen ihr durch den Kopf. Was hatte er mit ihnen gemacht? Warum hatte er so viel Blut an sich? Sie können nicht tot sein. Meine Eltern können nicht tot sein. Bitte nicht. Wo soll ich denn hin, wenn sie tot sind? Ich schreibe am Montag eine Spanischarbeit. Warum bin ich gestern Abend nicht zu Hause geblieben? Was wäre passiert, wenn ich zu Hause geblieben wäre? Wo bringen sie Andrew hin? Kommt er zurück? Muss ich ihn aus dem Gefängnis holen? Wen soll ich anrufen? Wer fährt mich am Freitag zum Leichtathletikwettkampf Sie können nicht tot sein. Warum war da bloß so verdammt viel Blut? Plötzlich hatte sie einen glasklaren nüchternen Gedanken ... Vielleicht lebten sie noch. Sie stand auf und rannte los, so schnell, dass die umstehenden Menschen nicht einmal Zeit hatten, nach Luft zu schnappen. Sie rannte so schnell, wie sie konnte, horte, wie Detective Potter ihr nachrief, sie solle stehen bleiben, rannte weiter über den gefrorenen Rasen mit den Schneeresten, vorbei an den Uniformierten auf dem Gehweg und den Sanitätern in der Einfahrt. Die Stufen hinauf und hinein in das Haus, das bis dahin ihr Zuhausegewesen war. Gerade noch rechtzeitig trat sie auf die Bremse, und ihr Honda kam etwa drei Zentimeter vor der Stoßstange des Lexus davor zum Stehen. Sie holte Luft und winkte dem Fahrer vor ihr entschuldigend zu, der im Rückspiegel wütend den Kopf schüttelte und eine Faust hochhielt. Die Fahrer und Beifahrer der anderen Wagen im zähen Berufsverkehr auf der Interstate 95 starrten zu ihr herüber. Mit zitternden Händen griff sie auf den Boden vor dem Beifahrersitz, wo ihre Aktentasche, die Handtasche und die Zigaretten gelandet waren. FÜR JULIA – PERSÖNLICH UND VERTRAULICH. Sie zuckte zusammen. Lats Ordner lag auf dem Boden. Sie hatte ihn noch nicht aufgeschlagen. An einer Seite stand ein schwarzweißes Foto heraus. Sie erkannte das Gesicht sofort, den weichen Fall der Locken, die großen braunen Augen. Sie legte die Stirn aufs Lenkrad und schloss die Augen. Die Erinnerungen kamen zurück, tauchten in ihrem Kopf auf wie Bildschirmschoner, sobald nichts anderes da war, was sie ablenkte. Und mit jedem Mal wurden sie klarer. Und heller. Und schärfer. Mit zitternden Fingern zündete sie sich eine Zigarette an. Das Bild war beinahe komplett.
KAPITEL 57
SIE LEGTE den Ordner mit der Handtasche und der Aktentasche auf dem Küchentisch ab und ließ ihn dort liegen. Dann ging sie mit Moose spazieren, der verzweifelt um Aufmerksamkeit bettelte. Zu mehr als einer kleinen Runde um den Block konnte sie sich allerdings nicht aufraffen. Wieder zu Hause, nahm sie zwei Kopfschmerztabletten, zündete sich eine Zigarette an und setzte sich mit einem Glas Wein ins Wohnzimmer, um ihre Gedanken zu ordnen. Genau wie das Rauchen war das Trinken eine schlechte Angewohnheit, die sie nach dem College nur mit Mühe wieder losgeworden war. Eine krisengeschüttelte Beziehung hatte sie dazu verleitet, mehr zu trinken, als gut für sie war. Die psychologische Beraterin der Rutgers University nannte es
« Problemtrinken» – Alkohol als Sorgenventil – und riet ihr, es nie wieder so weit kommen zu lassen. Doch die Beraterin, selbst frisch von der Uni, hatte natürlich
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