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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
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keine Ahnung von der Dimension der Sorgen gehabt, mit denen Julia sich heute auseinandersetzen musste. Sonst hätte sie wahrscheinlich noch ein Fläschchen dazuspendiert. Außerdem war es nur Wein, sagte sie sich. Und es war schon fast dunkel draußen. Ich habe sie gerettet, Juju. Ich musste es tun. Sie legte den Kopf in die Hände und rieb sich die Augen. Andrew. Ihr großer Bruder. Sie sah ihn vor sich auf dem gefrorenen Rasen, barfuß im Schnee, im Hintergrund das Haus in voller Weihnachtsbeleuchtung. Seine zerschnittenen Hände hingen wie leblos vor ihm, und das Blut färbte den Schnee rot wie in einem verrückten Horrorfilm. Traurig lächelnd, als wüsste er, dass sie einander nie wiedersehen würden ... Antrag auf Adoption von J.C., minderjährig, durch Nora Clair Valenciano und ihren Mann James Anthony Valenciano. Beide Parteien sind zur abschließenden Anhörung anwesend», sagte der Gerichtsdiener.
Lassen Sie die Minderjährige vortreten», rief der Richter und wedelte mit der Hand, während er finster auf die Formulare blickte und eine Dose Dtet Coke trank. Ein Dutzend Menschen bevölkerten den kleinen Gerichtssaal. Das Gebäude war so alt, dass die Fensterscheiben, die seit Jahren nicht geputzt worden waren, gelb wirkten. Staubkörner tanzten in der stehenden Luft. In einer Ecke stapelten sich Kisten buchstäblich bis zur Decke, und der Tisch des Gerichtsdieners war über und über mit Papieren bedeckt.
Mary Ellen Kelly als Rechtsbeistand der Minderjährigen», sagte eine dickliche Frau mit grauem Haar, das ihr bis zur Hüfte ging. Julia hatte sie einmal gesehen, als sie zu Tante Nora nach Hause kam.
Wir haben keine Einwände.»
In welcher Beziehung steht die Minderjährige ...», sagte der Richter zögernd, während sein Blick suchend über das Formular wanderte,
Julia Anne Cirto», las er langsam,
und die Antragsteller?» Er sprach den Namen falsch aus. Jetzt sah er Julia zum ersten Mal an.
Wie alt ist sie?»
Julia wird Ende des Monats fünfzehn», antwortete Mr. Singh, Tante Noras Anwalt.
Sie ist die Nichte der Antragsteller, Herr Richter. Die Tochter von Mrs. Valencianos verstorbener Schwester Irene Cirto.»
Wo ist der Vater?»
Ebenfalls verstorben.»
Sonst gibt es keine Angehörigen?» Ms. Kelly schüttelte den Kopf
Nein, Euer Ehren», sagte sie ins Mikrophon, dann räusperte sie sich.
Niemand. Ihre Tante und ihr Onkel sind die Einzigen, die das Mädchen noch hat.» War es möglich, einen Menschen von einem Augenblick zum anderen zu hassen? Einen Menschen, den man Sekunden zuvor von ganzem Herzen geliebt hatte? Konnte man Liebe einfach abstellen? Konnte eine schreckliche Erinnerung die Bedeutung von so vielen guten löschen? Sollte sie das? In jener Nacht, als sie in dem kalten grauen Vernehmungszimmer auf dem Revier saß, sehnte sie sich immer noch nach Andy. Es war der große Bruder, dessen Hand sie halten wollte, in dessen Arme sie fallen wollte, von dem sie getröstet werden wollte. Er sollte ihr sagen, es wird alles gut, das Ganze ist ein schreckliches Missverständnis. Ein Unfall. Es musste so sein. Das Ungeheuer soll in der Hölle schmoren. Hast du die Fotos gesehen? Hast du gesehen, was er ihnen angetan hat? Dafür muss er büßen. Das ist Gerechtigkeit.
« Nein, nein, nein ...», flüsterte sie, allein in dem leeren Zimmer, und versuchte, die Erinnerungen aus ihrem Kopf zu vertreiben. Dann zog sie das Foto aus der Jackentasche, faltete es auseinander. CIRTO, ANDREW JOSEPH; NASSAU COUNTY SHERIFF’S DEPT. JUSTIZVOLLZUGSANSTALT #11970; 21.12. 90. Selbst auf dem Schwarzweißbild sah sie die Schatten auf seinen glatten Wangen, die schweißfeuchten Locken auf seiner Stirn, die Angst in seinen mandelförmigen Augen. Die einzigen Bilder von Andrew, die die letzten fünfzehn Jahre überdauert hatten, waren die wenigen, die sie im Kopf hatte. Dieses hier gehörte nicht dazu. Das alles war zu viel für sie. Sie fürchtete, dass ihr Kopf es nicht aushielt – wie ein Bankautomat, in den man zu oft die falsche Nummer eingegeben hatte. Alles wurde weiß, nichts ergab mehr Sinn. Aber wie sollte es auch? Wie konnte so etwas Sinn ergeben? Vielleicht hatte sie deswegen unbewusst beschlossen, alles zu vergessen. Selektive Erinnerung – das Gehirn behielt nur das, womit es umgehen kann, mehr nicht. Der Vietnam-Veteran, der sich nicht erinnert, dass in dem Hinterhalt, den er überlebt hat, sein ganzer Trupp getötet wurde. Die Frau, die sich an den Missbrauch durch den komischen Onkel nicht erinnert, doch aus

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