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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
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irgendeinem Grund ihre Kinder nicht mit ihm allein lassen will. Das Motorengeräusch eines Helikopters oder der abstoßende Geruch eines Aftershaves brachte alles plötzlich zurück. Julia sah in die dunkle Küche, wo die letzten Geheimnisse lagen, in komplizierten Computerausdrucken und Gerichtsakten verborgen. Die Antworten, nach denen sie suchte, waren hier, nur ein paar Schritte von ihr entfernt, doch sie konnte sich nicht bewegen.’ Stattdessen checkte sie ihre E-Mails, zog sich um, hörte den Anrufbeantworter ab –jede noch so unangenehme Pflicht, die ihr einfiel, um hinauszuzögern, was sie vor sich hatte. Erst als es keine Ausrede mehr gab, ging sie in die Küche und knipste das Licht an. FÜR JULIA. PERSÖNLICH UND VERTRAULICH. Mit dem leeren Weinglas und klopfendem Herzen setzte sie sich an den Tisch und starrte den Ordner an wie einen schlafenden Alligator, der ihr jeden Moment den Arm abbeißen konnte. Wenn sie den Ordner erst einmal geöffnet hatte – wenn sich ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigten –, gab es kein Zurück. Das war es, was ihr am meisten Angst einjagte. Lass die Vergangenheit ruhen. Uns allen zuliebe. Bitte. Fünf Minuten, vielleicht zehn oder mehr, verstrichen, in denen sie einfach nur dasaß und dem Ticken der Küchenuhr lauschte. Dann öffnete sie langsam die Mappe. Die Zeit war reif, sich dem zu stellen, was vor genau vierzehn Jahren ihre Familie zerstört hatte.
KAPITEL 58
    JULIA – kurz zu Ihrer Information: Andrew Joseph Cirto befindet sich momentan in Kirby, Ward’s Island, New York City. Telefonisch überprüft am 21.12. M. Zlocki, Archiv. Der gelbe Zettel mit Lats Handschrift klebte auf dem ersten Blatt des Ausdrucks. Julia holte Luft und setzte sich auf. Er lebt. Mein Gott, er lebt ... Sie überflog die Seiten und las die Einträge, die Lat für sie markiert hatte. Verhaftung am 22. Dezember 1990. Die Anschuldigung lautete auf zweifachen Mord. Ihre Augen überflogen den Ausdruck wie tausendmal zuvor vor Gericht. Sie übersprang Absätze, von der Anklageerhebung bis zur Verhandlung. Auf der vierten Seite fand sie das Urteil, das Lat gelb unterstrichen hatte. 12. 08.1992 Richter: R. Deverna. Urteil: Nicht schuldig aufgrund einer psychischen Störung/Krankheit. Sie starrte die Buchstaben auf dem Papier an. Erleichtert, dass Andrew noch lebte. Gleichzeitig begann sich alles um sie zu drehen, und ihr wurde übel. Sie legte den Kopf zwischen die Knie, wie Lat es ihr damals im Haus der Marquettes gezeigt hatte, doch diesmal half es nicht. Eine Minute später rannte sie ins Badezimmer und erbrach den Wein und ihr Mittagessen. Als sie im Bad auf den kalten Fliesen saß, strömten ihr die Tränen über das Gesicht. Der Damm war gebrochen. Sie zitterte am ganzen Körper und bekam kaum Luft. Die Naht, die ihr Herz notdürftig zusammengehalten hatte, drohte wieder zu reißen. Bis zehn zu zählen, oder bis eine Million, würde nicht mehr helfen, die bösen Erinnerungen loszuwerden. Alle Erinnerungen. Manche schön, manche traurig, manche bittersüß.
    « Du musst mich nicht Mom nennen», sagte Tante Nora leise, als sie im Gerichtsgebäude in den Fahrstuhl stiegen, wo es nach Schweiß und Kaffee roch, Onkel Jimmy war vorgegangen, um den Wagen aus dem Parkhaus zu holen. Sie zeigte auf die Papiere, die man Julia in die Hand gedrückt hatte.
Das alles ist nur zu deinem Schutz. Damit dir niemand etwas anhaben kann.» Der kleine Fahrstuhl sprang quietschend an und fuhr abwärts.
Deine Mutter hätte es so gewollt», erklärte sie, als Julia immer noch nichts sagte. An jenem Morgen auf dem Weg zum Gericht war ihre Tante um zehn Jahre gealtert. Es war das letzte Kapitel in einem bösen Buch, das nie, nie ein gutes Ende finden würde. Tränen rollten ihr über die Wangen, doch sie wischte sie nicht ab. Stoisch starrte Julia die Fahrstuhltüren an und klopfte mit dem Bündel Papier gegen ihren Oberschenkel. Vor dem Gesetz lautet der neue Name der Minderjährigen Julia Anne Valenciano. Ihnen alles Gute», sagte der Richter noch, bevor er zum nächsten Fall auf seiner Liste überging. Dann löschte er mit einem schnellen Hammerschlag und einem offiziellen Stempel die Vergangenheit endgültig aus. Wo ist Andrew?», fragte Julia plötzlich. Nora sah sie an, die Augen voller Hass, und Julia wünschte, sie hätte nie gefragt. Die verbotene Frage, selbst Jahre danach.
In der Hölle», sagte Tante Nora tonlos, als der Fahrstuhl in der Lobby hielt.
Wo er hingehört.» Er sollte tot sein. Tot und

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