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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
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Dass er mit weißem Satin ausgekleidet war und ein weiches Kissen darin lag. Sie hoffte, dass ihr Bruder friedvoll aussah. Du musst nicht hinsehen, wenn du nicht willst. Dann wird der Sarg geschlossen. Sie hatte nicht hingesehen. Die Gemeinde von St. Thomas unterhielt in West Hempstead zwei Gotteshäuser – die Hauptkirche und eine kleine Kapelle auf der anderen Seite der Stadt. Julias Vater hatte die Kapelle bevorzugt, daher hatte die Familie früher immer dort am Sonntagsgottesdienst teilgenommen. Doch Julia mochte die Hauptkirche lieber, vor allem, wenn sie voll besetzt war wie zur Mitternachtsmesse am Heiligen Abend. Dann drängten sich die Leute sogar im Vestibül und bis hinaus auf die Eingangsstufen, und der Chor sang von der Empore, begleitet von der alten Orgel und der Gitarrengruppe. Die meisten Chormitglieder waren die älteren Geschwister ihrer Klassenkameraden aus der St.-Thomas-Grundschule gleich nebenan. Julia erinnerte sich, dass sie auch einmal im Chor hatte mitsingen wollen. Die Tür zur Sakristei öffnete sich, und ein junger Priester trat heraus. Er küsste die Stola, die um seinen Hals lag, und kniete vor dem Altar nieder. Dann drehte er sich um und bückte den Mittelgang der leeren Kirche entlang. Die beiden Sargträger von Barnes & Sorrentino standen an der Tür des Seitengangs.
« Soll ich noch einen Augenblick warten?», wandte sich Pater Tom an Julia. Sie schüttelte den Kopf.
« Nein, Pater, das ist nicht nötig.» Tante Nora hatte während ihres Telefonats am Abend zuvor einfach aufgelegt, sobald Julia Andys Namen erwähnt hatte. Sie war nicht einmal dazu gekommen, ihr mitzuteilen, dass er gestorben war. Danach hatte Julia die ganze Nacht hindurch nur noch das Besetztzeichen gehört. Außer ihrer Tante und Onkel Jimmy gab es niemanden, den sie hätte anrufen können. Sie hielt eine zusammengefaltete, fast fertige Zeichnung von Andy in der Hand, die sie in der Tüte mit seinen persönlichen Sachen gefunden hatte. Es war eine Zeichnung von ihr. Sie saß am Tisch, eingerahmt von Sternen und Monden, im Besucherraum und lächelte.
« Gut», sagte Pater Tom sanft.
« Dann wird das wohl ein sehr persönlicher Gottesdienst.» Anstatt die Kanzel zu besteigen, kam er die Stufen des Altarraums herab und setzte sich neben Julia. Zu ihrer Überraschung ergriff er ihre Hand.
« Wir sind heute hier, um von Andrew Cirto Abschied zu nehmen, einem liebevollen Sohn und Bruder», begann er mit weicher Stimme.
« Einer verlorenen Seele, die von allen vermisst wird, die ihn kannten, von seiner Familie und vor allem von seiner Schwester.» Julia korrigierte ihn nicht. Sie senkte den Kopf und hörte zu, während Pater Tom zehn Minuten lang über all die Dinge sprach, die sie ihm gestern bei einer Tasse Kaffee im Pfarrhaus erzählt hatte. Über das Schlittschuhlaufen mit Andrew im Hall’s Pond Park und die Filmnächte im Elmont Theater mit ihrer Mutter. Darüber, dass Andrew immer sein Pausenbrot mit ihr teilte, wenn sie ihres vergessen hatte, auch wenn sich die älteren Schüler dann über ihn lustig machten. Darüber, wie er einmal einen Jungen geschubst hatte, der frech zu ihr gewesen war. Wenn sie den Bus verpasst hatte, hatte er immer auf sie gewartet, damit sie gemeinsam nach Hause gehen konnten. Er war ein großartiger Zuhörer und wundervoller Freund gewesen. Und zuletzt sprach Pater Tom über den freundlichen, missverstandenen Mann mit dem jungenhaften, schüchternen Lächeln, den sie nach viel zu langer Zeit gerade erst wiedergefunden und neu kennengelernt hatte. Julia war erleichtert, dass der Pater kein einziges Mal erwähnte, dass Andrew ein Mörder gewesen war. Ein Wahnsinniger. Ein Kranker.
« Wir wollen beten», sagte er nun, und Julia kniete nieder und betete zu einem Gott, den sie für grausam hielt und an den sie schon lange nicht mehr glaubte. Sie schloss die Augen und sah Andrews Gesicht vor sich, so, wie sie es in Erinnerung behalten wollte. Bevor die Krankheit alle Lebensfreude aus ihm herausgesaugt hatte. Er war sechzehn Jahre alt und schwang lächelnd einen Baseballschläger. Tränen liefen über ihre Wangen, während das Gebet des Priesters die leere Kirche erfüllte.
KAPITEL 93
    V OR DER Wohnungstür lag eine Matte mit der Aufschrift
« Home Sweet Home», über dem Türspion hing ein Kranz aus getrockneten Blumen. Lat klingelte erneut und trommelte ungeduldig mit den Fingern gegen den Türrahmen.
« Julia», sagte er, « ich bin’s, Lat. Komm schon, ich weiß, dass du zu Hause bist.»

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