Vater unser
Mein herzliches Beileid. Ich bin Evelyn. Setzen wir uns doch in mein Büro.» Julia folgte Evelyn durch den Empfangsbereich, der mit einem abgenutzten roten Teppich ausgelegt war. Welch eine seltsame Farbe für ein Bestattungsunternehmen, dachte sie. Ein roter Teppich. Vielleicht sollte es ein Symbol sein – ein großer Abtritt von der Bühne des Lebens. Auch du warst jemand! In Evelyns kleinem Büro nahm Julia in einem der zwei Ohrensessel Platz, die vor einem antiken Schreibtisch standen. Evelyn setzte sich in den anderen.
« Der Leichnam Ihres Bruders ist heute von der Gerichtsmedizin an uns überstellt worden. Nun müssten wir noch ...» – Evelyn zögerte kurz –
« einige Dinge besprechen. Sie können sich unseren Katalog ansehen, oder –» Julia schüttelte den Kopf.
« Ich – ich kann mir nicht sehr viel leisten, Evelyn», stammelte sie.
« Mein Bruder – er hatte kein Geld oder irgendeine Versicherung. Aber ich möchte, dass er etwas Schönes bekommt. Ich habe ungefähr fünftausend Dollar zur Verfügung. Würden Sie etwas für mich aussuchen?» Sie wollte nicht all die kostspieligen Särge sehen oder all die Extras, die sie nicht bezahlen konnte. Sie wollte es einfach nur hinter sich bringen. Evelyn nickte und legte Julia mitfühlend die Hand auf den Arm.
« Natürlich. Ich kann das gern für Sie übernehmen.» Sie hielt einen Moment lang inne und fuhr dann fort:
« Ich muss zugeben, ich bin neugierig. Sie kommen aus Florida, und Ihr Bruder starb in Manhattan. Warum haben Sie sich für Barnes & Sorrentino entschieden? Haben Sie noch weitere Verwandte hier in West Hempstead? Möchten Sie, dass wir für Sie eine Todesanzeige schalten?» Julia sah aus dem einzigen Fenster des Büros hinaus auf den Parkplatz. Der Regen war stärker geworden. Sie erinnerte sich daran, wie sie und Andy an Halloween in dieser Gegend Süßigkeiten gesammelt hatten und zum Schwimmen in den Echo Park gegangen waren.
« Ich habe früher in West Hempstead gelebt. Mein Bruder und ich sind hier aufgewachsen, nur ein paar Häuserblocks entfernt in der Maple Street. Sie sind das einzige Beerdigungsinstitut, das ich kenne», erwiderte sie gedankenverloren. Dann senkte sie den Blick.
« Meine Eltern wurden ebenfalls von Ihnen bestattet.»
« Ach je», sagte Evelyn.
« Wann war das?» Julia seufzte auf.
« Vor langer Zeit.»
« Nun, ich verspreche Ihnen, dass wir uns um alles kümmern werden», sagte Evelyn mitfühlend.
« Wir müssen aber noch einige Dinge bereden. Wie lange soll Ihr Bruder aufgebahrt werden, einen Tag oder zwei Tage?»
« Eine Aufbahrung ist nicht nötig. Ich bin die einzige Angehörige», entgegnete Julia leise. Sie räusperte sich und kämpfte mit den Tränen.
« Außer mir wird niemand kommen. Niemand kennt meinen Bruder hier noch.»
« Oh», sagte Evelyn und warf einen Blick zur Tür.
« Da wäre ich mir nicht so sicher. Wir haben heute Morgen eine Blumenlieferung bekommen.»
« Das muss meine gewesen sein.» Julia biss sich auf die Lippe.
« Jeder Tote verdient Blumen.»
« Das stimmt», erwiderte Evelyn. Dann erhob sie sich.
« Ich zeige Ihnen den Raum für die Trauerfeier – falls Sie sich dafür entscheiden, sie hier abzuhalten.»
« Wir sind katholisch. Ich würde gern einen kleinen Gottesdienst in St. Thomas abhalten lassen.» Die beiden Frauen gingen schweigend den Gang entlang. Neben der zweiflügeligen Tür von
« Chapel A» stand auf einer schwarzen Magnettafel in kleinen weißen Buchstaben der Name
« Andrew J. Cirto». In ein paar Tagen würden die Buchstaben wieder zu einem anderen Namen angeordnet werden. Evelyn öffnete einen Türflügel, und Julia schloss die Augen. Du musst nicht hinsehen, wenn du nicht willst, Kleines. Dann werden die Särge geschlossen. Bitte nicht, Liebes. Sieh nicht hin. Du willst sie doch so in Erinnerung behalten, wie sie waren.
« Wie Sie sehen, war es eine ziemlich große Blumenlieferung. Wir mussten sie etwas verteilen», sagte Evelyn. Julia öffnete die Augen. Hunderte weißer Pfingstrosen füllten den Raum.
KAPITEL 92
IN DER Kirche herrschte an diesem Montagmorgen eine unheimliche Stille. Nur das Geräusch des Regens, der gegen die bunten Glasfenster prasselte, war in dem hoch aufragenden, von Steinsäulen getragenen Mittelschiff zu hören. Julia saß allein in der ersten Bank. Unmittelbar vor ihr, inmitten der Pfingstrosen, stand Andrews Sarg auf einer rollbaren Metalltrage, bedeckt mit einem weißen Tuch. Sie hoffte, dass Evelyn einen schönen ausgesucht hatte.
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