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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
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Zeichnungen sind dabei, die er an der Wand hängen hatte, außerdem sein Tagebuch, seine Brieftasche und ein Abschlussring von der Highschool.» Dr. Mynks’ Stimme klang nüchtern, und Julia wurde augenblicklich klar, dass Andrews Tod für ihn keineswegs eine Tragödie war, sondern reine Statistik. Wahrscheinlich bedauerte er lediglich, dass der Todesfall unter seiner Aufsicht geschehen war und daher mit ihm in Verbindung gebracht werden würde. Für ihn war Andrew nur ein Patient von vielen gewesen, ein Insasse, ein Aktenzeichen. Julia wartete förmlich darauf, dass Dr. Mynks verstohlen auf die Uhr sehen oder ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden tippen würde, um ihr zu zeigen, dass er Besseres zu tun hatte. Sie nahm die Tüte entgegen und verharrte dann bewegungslos. Sie war noch nicht bereit, zu gehen und kommentarlos zu akzeptieren, was geschehen war.
« Was ist passiert?», stieß sie mit bebender Stimme hervor.
« Selbstmord», erwiderte Dr. Mynks ausdruckslos.
« Wie ich Ihnen bereits am Telefon sagte, Miss Valenciano.» Julia starrte ihn eindringlich an.
« Er hat sich in der Dusche erhängt.» Dr. Mynks schwieg einen kurzen Moment. Dann schaute er sie fest an und sagte:
« Es tut mir sehr leid, Miss Valenciano. Aber schwere Depressionen sind häufig Begleiterscheinung von Schizophrenie. Ihr Bruder hatte sich mit seiner Krankheit abgefunden und begonnen, sich mit dem Verbrechen, das er begangen hat, auseinanderzusetzen. Leider wirken gewisse Erkenntnisse auf den Patienten manchmal derart überwältigend, dass er sie emotional nicht verarbeiten kann. Und in Anbetracht der kürzlich eingetretenen Veränderungen in Andrews Leben ...» Dr. Mynks verstummte. Dann hob er abwehrend die Hand.
« Das soll nicht heißen, dass er sich deswegen das Leben genommen hat. Es gab keinen Abschiedsbrief, und er hat auch niemandem erzählt, was er vorhatte, also sind dies alles nur Vermutungen.» Julia wusste, was Dr. Mynks eigentlich hatte sagen wollen. Sie war die Veränderung in Andrews Leben gewesen. Die Erinnerung an die Vergangenheit, die er nicht verkraften konnte, « Wenn Sie in nächster Zeit das Bedürfnis haben sollten –», begann Dr. Mynks, doch Julia wartete das finde seines Satzes nicht mehr ab. Sie drehte sich um, die Tüte mit Andrews Besitztümern fest an sich gedrückt, und trat durch die Sicherheitstüren hinaus in den Sonnenschein.
KAPITEL 91
    DAS BEERDIGUNGSINSTITUT Barnes & Sorrentino an der Kreuzung von McKinley Street und Hempstead Avenue war immer noch in demselben unscheinbaren Gelb gestrichen, das Julia in Erinnerung hatte. Eine kleine Rasenfläche trennte das Haus vom Bürgersteig, und Blumenbeete säumten den Weg, der zu der Eingangstür aus dunklem Holz führte. In ihrer Kindheit war Julia unzählige Male auf dem Weg zur Bücherei oder zum Bäcker mit dem Fahrrad an diesem Haus vorbeigefahren und hatte es immer für eine Arztpraxis gehalten. Erst als ihre Eltern dort aufgebahrt worden waren, begriff Julia, dass es sich um ein Bestattungsunternehmen handelte. Es hatte zu nieseln begonnen. Julia blieb für einen Moment neben ihrem Mietwagen auf dem leeren Parkplatz stehen, während die Erinnerungen auf sie einstürmten. Die Tankstelle an der Ecke, an der Andy und sie immer ihre Fahrradreifen mit Luft gefüllt hatten, war offenbar schon lange geschlossen, aber das Cafè auf der anderen Straßenseite existierte noch. Jeden Sonntag nach der Kirche hatte ihr Vater die Familie dorthin zum Brunch eingeladen – zu den besten Pfannkuchen der Welt. Zum letzten Mal hatte Julia die Pfannkuchen am Tag der Beerdigung ihrer Eltern gegessen. Nora und Jimmy hatten die Trauergäste zu einem kleinen Imbiss in das Cafè gebeten. Sie ging langsam über den Parkplatz und auf den Seiteneingang des Bestattungsunternehmens zu. Beeil dich, Julia, Liebes. Wir dürfen nicht zu spät kommen. Die Leute warten schon. Als sie die Tür öffnete, erschien wie aus dem Nichts eine ältere Dame mit toupierten weißen Haaren und roten Lippen. Sie blickte an Julia vorbei nach draußen und sagte:
« Ach je. Sieht so aus, als würde es schon wieder anfangen zu regnen. Dabei hatten wir in letzter Zeit wirklich genug Regen. Aber vielleicht ist der viele Regen ja ein Vorbote des Frühlings.» Sie lächelte.
« Was kann ich für Sie tun?» Julia sah sich unsicher im Empfangsbereich um.
« Ich ... Mein Name ist Julia Cirto. Ich habe gestern angerufen. Es geht um meinen Bruder, Andrew Cirto.» Die Frau nickte, und ihr Lächeln verschwand.
«

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