Vater unser
Immer noch keine Antwort. Er hämmerte gegen die Tür. Ein paar trockene Blütenblätter flatterten zu Boden.
« Ich weiß, dass du da bist. Ich muss mit dir reden. Komm schon, mach auf!» Immer noch nichts. Er ging ein paar Stufen hinab, um durch das Flurfenster in das um die Ecke hegende Fenster ihres Apartments zu blicken. In der Wohnung brannte kein Licht, und es gab auch sonst keine Anzeichen dafür, dass sie zu Hause war. Lat begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Er hatte die Passagierliste der Fluggesellschaft überprüft und wusste, dass Julia an diesem Nachmittag zurückgekommen war. Ihr Wagen stand auf dem Parkplatz des Apartmentkomplexes gegenüber, aber sie ging nicht ans Telefon und auch nicht an die Tür. Sie hatte sich in letzter Zeit zunehmend merkwürdig verhalten, und nach dem, was er in der vergangenen Woche herausgefunden hatte, befürchtete er das Schlimmste.
« Julia!», rief er laut. Zum Teufel mit den Nachbarn. Er schlug gegen die Tür und hoffte, dass seine Stimme fest klang und nicht die Angst verriet, die seine Eingeweide zusammenzog.
« Ich breche die Tür auf, wenn du nicht –», begann er, doch plötzlich drehte sich der Knauf in seiner Hand, und die Tür wurde geöffnet. Lat ließ ihn los und trat einen Schritt zurück. Sie stand im Flur ihres stockfinsteren Apartments. Mondlicht fiel durch die Wohnzimmerfenster hinter ihr, sodass Lat zunächst nur die Silhouette ihrer zierlichen Gestalt ausmachen konnte. Ihre Gesichtszüge lagen jedoch im Dunkeln.
« Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt», stieß er erleichtert hervor. Julia erwiderte nichts, rührte sich auch nicht. Lat trat einfach an ihr vorbei in das Apartment. Er sah sich im Wohnzimmer um und erkannte die Umrisse von Kleidungsstücken und Akten, die überall verstreut lagen.
« Ist alles in Ordnung?», fragte er, trat auf sie zu und wollte die Hand auf ihre Schulter legen. Sie wich seiner Berührung aus.
« Du hast Nachforschungen über mich angestellt.» Er holte tief Luft und starrte in ihr Gesicht, das immer noch von der Dunkelheit verborgen war. Wie gern hätte er ihr in die Augen gesehen. War sie wütend auf ihn? Vielleicht hätte er die Blumen nicht schicken sollen ...
« Ja, ich habe Nachforschungen angestellt», gab er schließlich zu. Dann sah er sich nach einem Lichtschalter um.
« Warum sitzt du hier im Dunkeln? Können wir bitte Licht machen? Wir müssen miteinander reden –»
« Ich will kein Licht machen, und ich will auch nicht mit dir reden. Ich will, dass du gehst.»
« Julia, das mit deinem Bruder tut mir leid. Wirklich. Ich wünschte, du hättest mir davon erzählt ...»
« Wovon?»
« Von ihm.»
« Ich weiß nicht, was ich dir hätte erzählen sollen. Vielleicht, dass er eigentlich ein ganz großartiger Mensch war, der von jedem missverstanden wurde, einschließlich mir?» Sie wandte sich ab, und er konnte hören, dass sie weinte.
« Ich will dich ansehen, Julia. Wo zum Teufel sind hier die Lichtschalter?» Wieder überfiel ihn Angst und drohte, ihm langsam die Kehle zuzuschnüren.
« Bitte, geh einfach», bat sie. Lat hielt ihre Hand fest und zog Julia mit sich, während er mit einer Hand an der Wand entlangtastete, bis er endlich einen Lichtschalter gefunden hatte. Die Wohnzimmerlampe flammte auf. Julia hatte den Kopf gesenkt, sodass die langen Haare ihr Gesicht verdeckten. Sie zitterte am ganzen Körper und wurde immer wieder von Schluchzern geschüttelt. Lat fühlte sich auf einmal völlig hilflos und wusste nicht, was er sagen sollte.
« Hör mal, Julia, ich habe die alten Zeitungsberichte gelesen. Und ich habe mit dem Bezirksstaatsanwalt von New York gesprochen. Ich weiß, was mit deinen Eltern passiert ist.» Er hielt inne und fragte sich, wie weit er gehen durfte.
« Dr. Mynks hat mir von Andrew erzählt. Es tut mir so leid, Julia.» Er schaute betreten zu Boden.
« Dein Verhalten war in letzter Zeit wirklich seltsam. Und dann hast du Dr. Barakat vor Gericht in die Mangel genommen und bist mitten in der Verhandlung einfach davongelaufen. Und seitdem nicht mehr aufgetaucht. Jetzt ergibt alles einen Sinn ... Ich wollte nur ... Warum hast du mir nichts gesagt? Vielleicht hätte ich dir helfen können ...» Julia riss sich los, drehte sich zur Wand und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
« Was hätte ich dir denn erzählen sollen? Und wann hätte ich das tun sollen? Hätte ich dir während einer Motorradfahrt ins Ohr brüllen sollen, dass mein Bruder schizophren ist? Und dass er
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