Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
Vom Netzwerk:
eines Nachts, als ich bei einer Freundin schlief, meine Eltern umgebracht hat? Was hättest du denn getan, wenn ich dir all das erzählt hätte? Und das ist noch lange nicht alles.» Ihre Stimme füllte sich mit Zorn.
« Weißt du, es war eigentlich gar nicht seine Schuld, dass er so war, wie er war.»
« Wovon sprichst du?»
« Stand das etwa nicht in der Akte, Lat? Das sollte es aber. Denn stell dir vor – mein Vater war ebenfalls schizophren, und vermutlich auch mein Großvater. Vermutlich, Lat, denn niemand hat je darüber geredet. Angesichts dieser Vorbelastung hätte kein Mitglied meiner Familie auch nur daran denken dürfen, ein Kind in die Welt zu setzen.» Sie schnappte nach Luft und wich an der Wand entlang zurück.
« Meine Eltern kannten das Risiko, Lat. Sie wussten, dass sie uns die Krankheit würden vererben können. Trotzdem haben sie uns bekommen. Es war das Selbstsüchtigste, was sie tun konnten. Und sie haben es trotzdem getan ...» Lat trat auf sie zu.
« Julia ...» Sie versteckte immer noch ihr Gesicht vor ihm.
« Ich will dein Mitleid nicht, John. Ich will niemandes Mitleid.»
« Hast du deswegen nichts gesagt?», fragte er, und in seine Stimme mischte sich Enttäuschung.
« Weil du dich für so verdammt stark hältst, dass du glaubst, mit alldem allein fertig zu werden? Weil du dir selbst und allen anderen beweisen willst, dass du es mit ungerechten Richtern, brutalen Verbrechern und dem ganzen System aufnehmen kannst? Dieser Fall – Marquette –, er hat so viel Ähnlichkeit mit dem, was du in der Vergangenheit erlebt hast... Es hätte von vornherein klar sein müssen, dass dich dieser Fall so mitnimmt.»
« Ich habe heute Morgen im Flugzeug Zeitung gelesen», sagte Julia leise.
« Die New York Post. Ein kleines Mädchen hat dabei zugesehen, wie der Freund ihrer Mutter zuerst ihre Mutter und dann sich selbst umgebracht hat. Dann saß dieses kleine Mädchen zwei Tage lang neben den Leichen, bis jemand an der Tür klingelte und es fand. Als ich das gelesen habe, ging es mir richtig schlecht, Lat. Ich hatte Mitleid mit dem Mädchen – mit seinem Leben, damit, was aus seinem Leben wird, weil es so anders ist als alle anderen. Aber schon morgen wird irgendeine andere Tragödie in der Zeitung stehen, und in ein oder zwei Wochen werde ich das kleine Mädchen vergessen haben. So geht es uns doch allen, oder? Wir vergessen die Tragödien, die in den Zeitungen stehen. Es sind einfach zu viele. Aber die Opfer der Tragödien leben weiter, John. Sie sitzen im Bus neben dir oder arbeiten im selben Büro. Es sind Menschen, die von anderen nur danach beurteilt werden, was ihnen widerfahren ist. Du bist nicht das nette Mädchen aus dem Mathekurs – du bist das Mädchen, dessen Eltern von ihrem verrückten Bruder umgebracht wurden. Du bist nicht die Sekretärin mit dem sympathischen Lachen – du bist die Frau, deren Familie bei einem Hausbrand ums Leben kam. Und ich – ich habe einfach keine Lust, darüber definiert zu werden.»
« Julia ...»
« Deswegen erzähle ich es niemandem. Und vielleicht hast du recht, und ich muss mir tatsächlich jeden Tag etwas beweisen. Dass ich mit diesem Leben zurechtkomme, und mit den Erinnerungen, die niemals verschwinden, ganz egal, wie sehr ich es mir wünsche oder wie oft ich sie verleugne. Ich will nicht, dass mein Schicksal mein ganzes Leben bestimmt...» Lat ging zu ihr und nahm ihren zitternden Körper in die Arme. Julia versuchte, sich herauszuwinden, doch er hielt sie fest, bis sie schließlich aufgab und weinend in seinen Armen zusammenbrach. Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht und streichelte sanft über ihre tränenfeuchten Wangen und ihren Hals.
« Für mich bist du immer noch die heiße Staatsanwältin mit dem netten Lachen und dem tollen Busen», sagte er leise in ihr Ohr. Lat spürte, wie Julias Körper erneut zu beben begann, doch diesmal wusste er, dass sie lachte. Er umfasste ihr Gesicht mit den Händen. Ihre Augen waren rot und geschwollen. Sie musste tagelang geweint haben. Seltsam, sie sah trotzdem wunderschön aus. So rebellisch. So verletzlich und zugleich so stark. Er beugte sich zu ihr hinunter.
« Du hast gesagt, du würdest nicht derjenige sein wollen, mit dem ich mich über einen anderen hinwegtröste», flüsterte sie.
« Das», sagte er und zog sie noch näher an sich, « habe ich auch nicht vor.» Dann tat er, wonach er sich schon seit so langer Zeit mit Leib und Seele sehnte, und küsste sie. Ein Klaffen fühlte ich im Geist – Als

Weitere Kostenlose Bücher