Vater unser
und denken, mehr brauchen sie nicht. Aber sobald es noch einen Eigentümer oder Bewohner gibt – einen Mieter, Mitbewohner oder auch nur Gast –, brauchen sie entweder dessen Einwilligung oder eine richterliche Verfügung. Denn sollte sich der Mitbewohner am Ende als Täter herausstellen, können sie ohne die Befugnis die Mordwaffe, die sie gerade in der gemeinschaftlich genutzten Küchenschublade gefunden haben, direkt auf den Müll werfen. Zack – Formfehler, und der ganze Fall ist geplatzt.» Und zum Dritten. Wenn du keine Ahnung hast, halt den Mund. Noch einer von Onkel Jimmys Sprüchen, an den sie hätte denken sollen. Rick drehte sich um und ging voraus durch einen weiteren Flur, der von der Treppe wegführte. Am Ende befand sich eine Flügeltür. Und weitere Phantomspuren auf dem Teppich.
« Gehen wir die Morde der Reihe nach durch, so wie wir sie rekonstruiert haben», sagte er und streifte sich ein paar Latexhandschuhe über. Er reichte ihr ebenfalls ein Paar.
« Auch wenn die Spurensicherung schon da war, zieh dir immer Handschuhe an, bevor du etwas anfasst. Ich hoffe, du bist nicht empfindlich.» Dann öffnete er die Tür.
« Hier hat man die Mutter gefunden.» Julia schluckte und versuchte, sich auf das gefasst zu machen, was sie erwartete, doch irgendetwas in ihr sträubte sich dagegen. Es war eine Sache, in der Theorie über einen Tatort zu sprechen, über die genaue Position der Leichen, die Eintritts— und Austrittswunden und die Todesursache; doch zusammen mit den Geistern der Toten durch blutverschmierte Flure zu gehen, war etwas ganz anderes. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre davongelaufen, die Treppe hinunter, hinaus aus diesem unheimlichen, perfekten Haus, zu ihrem Auto, in ihr Büro, nach Hause. Sie würde sich von Charley Rifkin eine Standpauke abholen und sich von der aufkeimenden Beziehung mit Rick Bellido verabschieden, wenn es sein müsste. Das unbeschreibliche Grauen, das sie beschlich, würde sie ihrer Unerfahrenheit anlasten. Bloß nicht hinsehen, Julia. Geh nicht da rein. Lass die Toten ruhen. Doch dafür war es längst zu spät. Dunkelrote Blutspritzer verliefen in hohem Bogen an den weißen Wänden, die Decke war mit Tausenden von winzigen Tröpfchen übersät. Die Stellen, an denen sich Blut und andere Körperflüssigkeiten auf dem dunklen Mahagonifußboden gesammelt hatten, waren mit weißem Klebeband markiert. Über dem antiken Himmelbett hing ein Hochzeitsfoto in einem kostbar verzierten Rahmen, von dem David und Jennifer lächelnd auf die nackte blutverschmierte Matratze herunterblickten. Das Blut war überall. Es war durch die dünnen Kissenbezüge gesickert und hinterließ Zickzacklinien auf dem Bett, die die Matratze stellenweise mehrere Zentimeter tief zu tränken schienen. Julias Blick kehrte zu dem glücklichen, nichtsahnenden Foto zurück, das erst ein paar Jahre alt sein konnte. Blut war auch auf das Glas gespritzt, wo es geronnen war und dicke Nasen gebildet hatte, wie Farbe an einer eilig gestrichenen Wand. Es sah aus, als weinten die Geister Blut, während in Julias Kopf die stummen Schreie der Toten gellten. Es war, als wäre sie in dem Teil eines Horrorfilms gelandet, wo alle zu kreischen anfingen.
KAPITEL 10
MAN HAT die Leiche auf dem Bett gefunden», sagte Rick.
« Die Spurensicherung hat schon ein bisschen sauber gemacht. Die Bettwäsche haben sie mitgenommen. Der Blutspurenexperte von Metro-Dade war gestern hier und heute Morgen wieder. Du siehst ja die Flecken am Kopfende und an den Wänden. Das Blut ist fast drei Meter hochgespritzt. Die Spuren fangen hier unten an und reichen bis da rüber», sagte er und zeigte von der blutigen Matratze an die Wand neben dem Nachttisch.
« Anscheinend lag Jennifer im Bett, als sie angegriffen wurde. Was du an der Decke siehst, nennt man Satellitenspritzer. Höchstwahrscheinlich hat er die Schlagader getroffen. Wir gehen davon aus, dass sie geschlafen hat.» Im Schlaf.
« Was war die Todesursache?», fragte Julia leise, ohne den Blick von der Matratze abwenden zu können. Die Flecken bedeckten nur eine Hälfte des Doppelbetts und beschrieben fm Großen und Ganzen die Umrisse eines Körpers. Sie brauchte keine Tatortfotos, um Jennifer Marquette vor sich zu sehen, das hübsche Gesicht verzerrt, die Augen offen und leer, starr zur Decke gerichtet. Selbst wenn ihre Augen bei ihrem letzten Atemzug geschlossen waren –Julia kannte ein paar der makabren Geheimnisse, die der Tod bereithielt. Wenn das Herz
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