Vater unser
Jimmy die Eigentumswohnung kauften, aber sie erinnerte sich noch gut an die Zeit, bevor es in den Korridoren nach Kohl roch und das dunkelrote Blumenmuster der Tapeten in der Lobby verblichen war. Vielleicht war ihr der erste Besuch in Tante Noras Feriendomizil deshalb so lebhaft in Erinnerung geblieben, weil ihre Eltern ihn mit einem Ausflug nach Disney World kombiniert hatten. Ein paar verschwommene Schnappschüsse aus glücklichen Zeiten. Sie erinnerte sich an die schier endlose Fahrt im Familienkombi, der nach saurer Milch stank, weil ihr Bruder Andrew eine Woche zuvor eine ganze Tüte Kakao auf dem Rücksitz ausgeschüttet hatte. Das Frühstück bei McDonald’s. Die Pausen an der Interstate 95, damit ihr Vater alle möglichen Pflanzen sammeln konnte. Die Kämpfe mit Andy, weil jeder von ihnen den Kopf zum Schlafen auf die Mittelkonsole legen wollte. Abendessen bei Stuckey’s oder Denny’s oder Shoney’s. Wie sie in den Motel-Pools Haifisch und Marco Polo und Qualle gespielt hatten. Aber die deutlichste Erinnerung war die an ihre Mutter. Lächelnd, in Jeans und einem orangefarbenen T-Shirt, wie sie mit einem Strauß Plastikblumen durch McCrorys Kaufhaus lief.
« Die sind perfekt, Nora!», rief sie ihrer Schwester zu.
« Einfach perfekt.» Das Billigkaufhaus gab es längst nicht mehr, und ihre Mutter war tot, doch immer, wenn Julia an sie dachte, sah sie diese Szene vor sich. Ihre Mutter war nur wenige Jahre älter als Julia jetzt, sie trug ihr langes, braunes Haar offen und roch nach dem zitronigen Duft von Jean Nate und Bubblegum. Jener Augenblick hatte sich mit jedem Detail fest in ihr Gedächtnis eingebrannt – nur an eines konnte Julia sich seltsamerweise nicht erinnern: an die Farbe der Blumen in ihrer Hand. Merkwürdig, denn der Strauß stand heute noch in Noras Badezimmer, und Julia sah ihn jedes Mal, wenn sie zu Besuch kam. Sie schüttelte die Erinnerungen ab, durchquerte die muffige, warme Eingangshalle und nickte dem weißhaarigen Sicherheitsmann zu, der sich auf einem tragbaren Fernseher eine Gerichtssendung anschaute und wahrscheinlich nicht einmal aufgesehen hätte, wenn sie mit einem Tarnanzug und einer Skimaske bekleidet gewesen wäre. Im Aufenthaltsraum wurde an einigen Tischen Bridge gespielt, an anderen heftig gezankt. Für den späten Freitagnachmittag war erstaunlich viel los. Julia nahm den Fahrstuhl in den zehnten Stock. Sobald sich die Türen öffneten, hörte sie aus jeder Wohnung das Geplärr von Nachmittagstalkshows oder Gerichtssendungen. Heute roch es in dem neonbeleuchteten Korridor nach Hühnersup— pe, Kohl und gekochten Eiern. Vor der Tür zu Wohnung 1052 stieg ihr der Duft von Würstchen, Paprika und brutzelndem Knoblauch in die Nase. Noch bevor sie klingeln konnte, wurde die Tür aufgerissen, und Moose kam herausgerannt, kläffte glücklich und führte ein kleines Tänzchen auf.
« Onkel Jimmy», sagte sie lächelnd und streichelte Moose, bevor sich die Nachbarn an seinem Kläffen stören konnten.
« Alles Gute zum Hochzeitstag! Woher wusstest du, dass ich vor der Tür stehe?»
« Hallo, Kleines», sagte Jimmy und warf wie immer einen prüfenden Blick in den Korridor. Julia hatte keine Ahnung, warum. Vielleicht erwartete er, dass sie jemanden mitgebracht hatte, oder wollte sichergehen, dass ihr niemand gefolgt war.
« Freddy hat Bescheid gesagt.» Sie sah ihn fragend an.
« Wer ist Freddy?»
« Fred. Der Wachmann in der Eingangshalle. Er hat angerufen und gesagt, dass du unterwegs bist.» Gut, dass sie die Skimaske im Auto gelassen hatte.
« Wo ist Tante Nora?», fragte sie, gab ihrem Onkel einen Kuss und betrat das in Mauve und Grau gehaltene Wohnzimmer, dass sich in den letzten dreiundzwanzig Jahren kein bisschen verändert hatte. In einer Ecke stand sogar ein malvenfarbener Hundekorb für Moose und eine Kiste mit Hundespielzeug, das dem Vergleich mit Paris Hiltons Chihuahua-Ausrüstung standgehalten hätte. Wie aufs Stichwort kam Tante Nora mit einem Kochlöffel in der Hand aus der Küche.
« Da bist du ja endlich!», rief sie, drückte Julia an ihren stattlichen Busen und gab ihr einen festen Kuss auf die Wange.
« Wir haben uns schon Sorgen gemacht.» Julia erwiderte die Umarmung. Nora war die ältere und einzige Schwester von Irene, Julias Mutter. Nach dem Tod ihrer Eltern vor vierzehn Jahren hatten Tante Nora und Onkel Jimmy Julia bei sich aufgenommen. Sie war dreizehn Jahre alt gewesen – alt genug, um zu begreifen, was um sie herum geschah und dass sie ab sofort
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