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Vater unser

Vater unser

Titel: Vater unser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jilliane Hoffman
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bei dem Onkel und der Tante auf Staten Island leben würde, wo das Sonntagsessen mit einem Haufen schräger italienischer Verwandter immer den ganzen Tag dauerte. Auf der Heimfahrt nach Long Island hatte ihr Dad immer betont, dass die schrägen Vögel von Jimmys Seite kamen. Ihr Vater hatte keine Familie. Sein einziger Bruder hatte als Teenager Selbstmord begangen, und seine Eltern waren beide gestorben, als Julia vier war. Sie erinnerte sich nicht einmal an sie. Nora und Jimmy konnten selbst keine Kinder bekommen, und nachdem die Tragödie passiert war, nahmen sie Julia wie eine Tochter auf. Sie liebten und beschützten sie. Und behandelten sie wie ein zerbrechliches Porzellanpüppchen, das jeden Moment in tausend Stücke zerbrechen konnte. Doch bei Nora gab es auch Regeln. Verrückte Regeln. Von dem Tag an, als Julia in Great Kills die Schwelle übertrat – eine einzige flauschige lila Tasche mit ein paar Kleidern in einer Hand und einen Schuhkarton mit Schätzen in der anderen –, waren bestimmte Themen verboten. Fotos verschwanden einfach, und liebevoll gehütete Andenken wurden stillschweigend beiseitegeräumt. Tante Nora verarbeitete den Verlust ihrer einzigen Schwester, indem sie den Schmerz aus ihrem Haus verbannte. Bestimmte Andenken und Bilder wurden durch Schnickschnack ersetzt, Tante Nora hängte ausschließlich Fotos von Julia und ihrer Mutter aus glücklichen Tagen in der Wohnung auf. Anders als ihre Tante hatte Julia über die Jahre nur gelernt, ihre Trauer zu verstecken. Mit Umarmungen, Küssen und Tonnen von Cannoli versuchte Tante Nora, Julias Kummer zu lindern, doch die Seelenqualen hatten nie aufgehört. Die Zeit hatte ihren chronischen Schmerz nur gedämpft. Und manchmal brach er sich mit zerstörerischer Wucht Bahn, und dann brauchte Julia all ihre Kraft, um nicht im gefährlichen Strudel des Selbstmitleids zu ertrinken. Oder eine gute Flasche Wein. Sie konnte es ihrer Tante nicht einmal zum Vorwurf machen, dass sie versuchte, die Vergangenheit völlig aus ihrem Leben zu verbannen. Und wenn man bedachte, dass aus Julia eine erfolgreiche Anwältin geworden war, die weder rauchte noch Drogen nahm, noch zum Frühstück Psychopharmaka mit Bourbon herunterspülte, schien Tante Noras Prinzip Erfolg gehabt zu haben. Fast fünfzehn Jahre später war sie zumindest äußerlich immer noch heil, während andere längst zerbrochen wären.
« Komm mit», sagte Tante Nora und zog Julia hinter sich her in die Küche.
« Und du hörst auf zu betteln», schalt sie Moose und schwenkte den Kochlöffel, während sie ihm einen Leckerbissen zuwarf.
« Warum hast du denn gekocht? Ich wollte euch doch zum Essen einladen», sagte Julia, obwohl sie wusste, wie lächerlich dieser Vorschlag war. Tante Nora glaubte, dass niemand auf der Welt so gut kochen konnte wie sie – und sie hatte recht.
« Wo kriegt man denn heutzutage noch Würstchen mit Paprika, die nicht zäh wie Schuhsohlen sind? Du solltest dein Geld lieber sparen, Kleines.» Julia lächelte.
« Alles Gute zum Hochzeitstag», sagte sie und überreichte ihrer Tante das Geschenk von Macy s. Onkel Jimmy trat mit einem vollen Weinglas neben sie.
« Wie läuft denn der große Fall, an dem du gerade arbeitest?», fragte er und reichte ihr das Glas.
« Ich hab dich noch gar nicht im Fernsehen gesehen.»
« Er hält die ganze Zeit nach dir Ausschau», warf ihre Tante ein, während sie die Gurken für einen Salat schnitt, von dem die gesamte Etage satt geworden wäre.
« Ich habe all unseren Nachbarn erzählt, dass meine Julia berühmt wird.» Julia griff nach einem Stück Gurke und versuchte, einen beiläufigen Tonfall anzuschlagen.
« Eigentlich sollte ich gar nicht darüber reden.» Als sie ihrer Tante neulich abends bei Kotelett und Ravioli erzählte, dass sie an einem richtig großen Fall mitarbeiten würde, hatte sie wie zufällig vergessen zu erwähnen, um welchen Fall es sich handelte.
« Aber es ist wirklich aufregend. Mein erster Mordfall, Onkel Jimmy. Ein Staatsanwalt von Major Crimes hat mich gebeten, den Fall mit ihm zusammen zu verhandeln. Stell dir vor, ich habe den Tatort besichtigt, ich kümmere mich um die Zeugenvernehmungen und bereite den Fall für die Grand Jury vor, die nächste Woche zusammentritt.»
« Worum genau geht es denn? Was hat der Kerl angestellt?», fragte Jimmy. Julia trank einen Schluck Wein.
« Er bekommt vielleicht die Todesstrafe.»
« Ach du meine Güte!», rief Nora stirnrunzelnd.
« Was hat er getan?», fragte Jimmy erneut.

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