Vater unser
befand, hatte sie ihn kein einziges Mal angesehen. Doch als sein Vater den Mann anschrie, den sie seinen Verteidiger nannten, hob sie endlich den Blick. Auf dem Schoß ihres maßgeschneiderten schwarzen Rocks lagen die Fetzen des Taschentuchs, das sie zerrissen hatte. Ein paar Reste hielt sie immer noch in der Hand und tupfte sich damit die rotgeränderten Augen. Ihr sonst so makelloses, feingeschminktes Gesicht war geschwollen, und hässliche blaue und gelbe Flecken schimmerten durch das Make-up. Seine Mutter war immer so vollkommen gewesen – selbst jetzt, mit dem Pflaster auf der Nase, wirkte sie elegant. Keine Haarsträhne am falschen Platz, die Mascara trotz der Tränen nicht verlaufen. Doch er wusste, dass sie sich innerlich wand und Todesqualen litt – all die Bakterien und Keime, die sie womöglich gerade einatmete. Sie schaffte es nicht einmal, ihn anzusehen. Vielleicht war es Neugier oder Schuldgefühle, die sie schließlich doch dazu brachten. Kurz blinzelte sie, neigte den Kopf mit der tadellosen Frisur zur Seite und betrachtete ihn wie ein Tier im Zoo. Ihre Augen glitten über seine Gestalt und registrierten offenbar jedes Detail. Dann trafen sich ihre Blicke.
« Gehen wir, Alain? Bitte», flehte sie plötzlich und stand mit aschfahlem Gesicht auf. Die Taschentuchfetzen fielen zu Boden. Sie wandte sich ab und ging zur Tür, die Arme um den Oberkörper geschlungen, als wäre ihr auf einmal entsetzlich kalt geworden.
« Nina», begann Alain.
« Gehen wir, sofort. Mir ist nicht wohl, Alain.» Es dauerte eine Weile, bis der Wachmann zurückkam und die Tür aufschloss, und während der ganzen Zeit drehte sich seine Mutter kein einziges Mal um. Vielleicht hatte sie etwas in seinen Augen gesehen. Oder sie hatte überhaupt nichts gesehen. Vielleicht war es dieses absolute Nichts gewesen, das die Farbe aus ihrem Gesicht vertrieben und sie zur Flucht vor ihm veranlasst hatte. Offensichtlich konnte sie den Anblick ihres Sohnes nicht mehr ertragen. Oder den Anblick dessen, was aus ihm geworden war.
KAPITEL 36
DER STAUBSAUGERVERTRETER», sagte Julia mit einem schüchternen Lächeln, als die Tür aufging.
« Ich nehme zwei, egal, was Sie verkaufen.» Rick lehnte an der Tür und sah sie lächelnd von Kopf bis Fuß an.
« Komm rein, bitte.» Zärtlich gab er ihr einen Kuss auf die Wange und führte sie in die Wohnung, die aussah wie aus einem Designkatalog. Das Wohnzimmer, in kühlen Blautönen, Meergrün und Weiß gehalten, öffnete sich zu einer modernen Küche mit blanken Stahloberflächen, blitzenden Glasschränken und einer Arbeitsplatte aus schwarzem Granit. Alles glänzte, und nirgendwo war auch nur ein Fingerabdruck zu sehen. Die schicken Modulmöbel waren locker auf dunklem Bambusboden arrangiert. Zeitgenössische – und, wie es aussah, teure – Kunst hing an den Wänden.
« Du hast es wirklich schön», sagte sie, als sie auf die Glastür zuging, die auf einen überdachten Balkon mit unglaublichem Blick auf das funkelnde Miami Beach hinausführte. Hinter den Hochhäusern konnte sie die Brandung des schwarzen Atlantiks schimmern sehen, nur ein paar Straßen weiter im Osten. Sie dachte an ihre eigene vollgestellte Wohnung – mit atemberaubendem Blick auf den Parkplatz. Sie hatte noch nicht einmal die Umzugskisten ganz ausgepackt – von vor drei Jahren. An den Wänden hingen gerahmte Poster aus dem Möbelhaus, und die Stühle passten nicht zueinander. Seit sie hier wohnte, hatte sie das Bett nicht zusammengeschraubt, und sie wusste auch nicht mehr, in welcher Kiste die Teller waren. Als sie daran dachte, dass sie bisher immer bei ihr auf der Matratze gelandet waren, fragte sie sich, was er von ihr halten mochte, wenn sie das Licht wieder anknipsten.
« Was für eine Aussicht», brachte sie hervor.
« Und du arbeitest wirklich bei der gleichen Behörde wie ich?» Rick lachte.
« Ja, aber schließlich lebe ich allein. Keine Frau, keine Kinder – keine Alimente, kein Unterhalt. Ich bin vor Jahren hier eingezogen, bevor die Immobilienpreise in die Höhe geschossen sind, Art deco wieder in Mode kam und South Beach richtig hip wurde. Das war allerdings vor deiner Zeit.» Er stand in der Küche, wo er mit einem lauten Plopp eine Weinflasche entkorkte.
« Es gab wirklich eine Zeit, in der South Beach nicht hip gewesen ist?», fragte Julia.
« O ja. Das wusstest du vielleicht nicht, aber ich bin einer der wenigen, die in dieser Stadt aufgewachsen sind. Meine Eltern sind aus Kuba – sie sind noch während der
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