Vater unser
Arme bedrohlich an ihren Gürteln. Sie suchten misstrauisch nach einem Grund, die Zellen zu durchstöbern. Wenn sie etwas fanden, begann das Geschrei. Er wusste nie warum, es interessierte ihn auch nicht. Sadisten, jeder Einzelne von ihnen. Und während der ganzen Zeit drangen aus ihren Funkgeräten seltsame Krächzlaute, die niemand außer ihnen verstand. In dem dichten Nebel, der durch seinen Kopf wirbelte, dauerte es Minuten, vielleicht Stunden, bis die Schritte ihren Rundgang beendeten. Für ihn hatte Zeit keine Bedeutung mehr, keinen Sinn, keine Grenzen. Und das war es, was ihm am meisten Angst machte, während er auf dem kalten Zementfußboden saß und darauf wartete, dass sie zu ihm kamen. Er schloss die Augen und ließ sich treiben. Die Medikamente, die sie ihm gaben, ertränkten ihn bei lebendigem Leib. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er in einem gigantischen Wasserstrudel gefangen. Erst sah er alles klar, doch plötzlich gaben seine Knie nach, und er wurde hinunter in die Finsternis gezogen. An der Oberfläche befand sich die reale Welt, nur eine Handbreit von ihm entfernt. Er sah die wässrigen Schatten, die verschwommenen Gesichter, hörte die verzerrten, gedämpften Unterhaltungen, aber er schaffte es nicht, in diese Welt zurückzukehren. Er musste zusehen, wie das Leben um ihn herum weiterging, als würde er nicht vor ihren Augen ertrinken. Die Verzweiflungsschreie gellten allein in seinem Kopf. Er öffnete die Augen und bemerkte erschrocken, dass das Klacken der Absätze näher gekommen war. Panik schnürte ihm die Kehle zu. Wo waren sie? Die Welle, die ihn erfasst hatte, war verebbt, doch er hatte jede Orientierung verloren. Der Mann im Käfig nebenan begann zu schreien. Die durchdringenden Klagelaute schnitten in sein Gehirn wie ein scharfes Messer. Wie ein verwundeter Kojote steckte er mit seinem Heulen die anderen an. Überall schrie und wimmerte es plötzlich. Es war unmöglich zu denken, zu hören, zu atmen. Die Schritte wurden wieder langsamer und kamen zum Stehen. Die Schlüssel rasselten, das Funkgerät krächzte. Er spürte, wie Augen ihn musterten, hörte gedämpften, schweren Atem.
« Ist er das?», fragte eine Stimme voller Abscheu.
« Ja. Hey, Marquette, hoch mit dir! Du hast schon wieder Ausgang!», rief eine andere Stimme.
« Das kotzt mich echt an. Erst heute Morgen mussten wir ihn fürs Gericht feinmachen, und jetzt wollen sie ihn schon wieder sehen.»
« Wo zum Teufel sind denn seine Klamotten?»
« Selbstmordgefahr», sagte derjenige mit dem klimpernden Schlüsselbund.
« Nichts, was zur Schlinge taugt, auf diesem Stockwerk. Du hast wohl noch nie hier gearbeitet, was?»
« Wie soll er sich aus ‘nem Overall eine Schlinge basteln? Und wo sollte er die dran aufhängen?»
« Du hast keine Ahnung, wie erfinderisch diese verrückten Arschlöcher sind. Ich hab mal einen gesehen, der sich seine eigene Scheiße ins Maul gestopft hat und daran erstickt ist. Deswegen sind die Typen ja hier, Mann. Und deswegen haben sie auch keine Klamotten an. Wir schützen sie vor sich selbst. Und davor, an den eigenen Unterhosen zu ersticken.» Der Klimpermann räusperte sich geräuschvoll und spuckte dann einen dicken Schleimbatzen auf den Zellenboden. Die gelbgrüne Masse landete neben seinem Fuß. Er spürte Wut in sich aufschäumen wie eine Welle, die sich brach. Als der Schleim seinen Zeh berührte, wollte er aufspringen und schreien, wollte Klimpermann an seinem fetten Hals packen und ihn wie einen Hund so lange mit der Nase in seine eigene Spucke stoßen, bis sie blutete. Aber er tat es nicht.
« Von mir aus könnte er sich ruhig umbringen», fuhr Klimpermann fort und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab.
« Der Kerl hat seine ganze Familie ausgeknipst, sogar sein unschuldiges Baby. Der hat’s nicht anders verdient. Wenn er es selbst macht, haben wir Steuergelder gespart. Das ist meine Meinung, aber ich hab hier ja nichts zu sagen.»
« Zum Glück», sagte der andere Wachmann schnaubend.
« Aber so kann er jedenfalls nicht nach unten., Ist er gewalttätig? Brauchen wir zusätzliche Gurte?»
« Bis jetzt hat er noch keinen Ärger gemacht. Er sagt nichts, er tut nichts, er sitzt einfach nur da. Du kannst ihm ins Gesicht furzen – der bewegt sich nicht», erwiderte Klimpermann.
« Was für ein Freak.»
« Na schön, dann ziehen wir ihn mal an», sagte der andere seufzend und warf einen Blick auf seine Uhr.
« Schließlich soll sein Besuch ihn nicht so zu Gesicht bekommen.»
KAPITEL 35
I CH
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