Vater unser
MUSS Sie vorwarnen, Alain», sagte Mel Levenson. Er hatte gerade das Protokoll unterschrieben und wartete darauf, dass der Wachmann ihm seinen Ausweis zurückgab.
« Wir sind hier in einem Gefängnis, nicht im Krankenhaus. Sie haben ja schon heute Morgen vor Gericht gesehen, dass sich David in einem sehr schlechten Zustand befindet. Es war bisher auch nicht leicht, mit ihm zu kommunizieren.»
« Warum ist er immer noch hier, Mr. Levenson?», wollte Alain Marquette mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln wissen.
« Warum ist er noch nicht wieder im Krankenhaus?»
« Sie haben uns die ganze Zeit nicht zu ihm gelassen», sagte Nina Marquette leise, während sie über das Revers ihres Mannes strich.
« Es ist schlimm für uns, unseren eigenen Sohn nicht sehen zu dürfen. Er ist schon seit Wochen hier, und wir konnten nicht einmal mit David sprechen. Ich finde das nicht richtig.» Sie wandte sich an ihren Mann und sagte leise: Alain, l’homme essaie de nous faire plaisir. Nous devons être patients ou alors nous ne reverrons jamais David. Les tribunaux Amèrcains rendent les choses tres difficiles.» Keiner der beiden übersetzte für Levenson. David Marquettes Mutter knüllte nervös das Papiertaschentuch zusammen, das sie in der Hand hielt. Im Eingangsbereich des Dade County Jail standen allerlei zwielichtige, schmutzig aussehende Leute herum, und sie wünschte, sie hätte nicht den teuren Schmuck angelegt. Alle Augen waren auf sie gerichtet, und wahrscheinlich fragte sich jeder, wie viel Geld sie bei sich trug, um jemandes Kaution zu zahlen. Geistesabwesend fuhr sie mit dem Finger über ihre Nase, die noch nicht ganz verheilt war. Vielleicht glaubten die Leute ja, sie sei ein Verbrechensopfer. Über dem kugelsicheren Glas, das den Wartebereich von den uniformierten Wachleuten auf der anderen Seite trennte, verkündete ein Schild, dass das Mitführen von Waffen verboten war und jede Zuwiderhandlung zur Anzeige gebracht würde. Darunter befanden sich Abbildungen von Schusswaffen, Messern und Bomben, die mit dicken schwarzen Balken durchgestrichen waren – für die Leute, die nicht lesen konnten. Obwohl überall Wachmänner standen, fühlte Nina sich nicht sicher. Sie wusste, dass auch diese sie beobachteten. Sie erinnerte sich an die Warnung ihres Vaters: Sieh nie auf ein Tier herab, Nina. Dann wird es böse und beißt. Und so starrte sie auf den schmutzigen Boden und konzentrierte sich auf die Wasserflecken auf dem Wildleder ihrer Designerstiefel.
« Es liegt im Ermessen des Wachpersonals, ob ein Häftling Besuch empfangen darf», erklärte Levenson geduldig.
« Und David wurde dies nicht gestattet. Das ist ein Problem, aber ich kann es leider nicht ändern, Mrs. Marquette. Ich habe zumindest durchgesetzt, dass ich zu ihm kann, und das ist erst einmal das Wichtigste.» Mel Levenson konnte beinahe drei Jahrzehnte Erfahrung mit dem Rechtssystem vorweisen, und es bestand kein Zweifel daran, dass er in Miami der Beste auf seinem Gebiet war. Er gab sich schon lange nicht mehr mit Kleinkriminellen und Ladendieben ab – es sei denn, ihr Name lautete Winona Ryder. Mel Levenson konnte sich seine Mandanten aussuchen, doch dieses Privileg brachte auch Nachteile mit sich, wie er festgestellt hatte. Die meisten seiner Auftraggeber hatten keine Erfahrung mit der Polizei und dem Rechtswesen, daher musste sich Levenson häufig mit verstörten und entrüsteten Verwandten befassen. Sie empörten sich über ein System, das bei Onkel Joey eine Leibesvisitation vorschrieb, nachdem er wegen Wertpapierbetrugs festgenommen worden war. Glaubten die etwa, dass er in seinem Hintern Aktienzertifikate versteckte? Er war doch kein richtiger Krimineller! Sie waren schockiert, wenn sie entdeckten, dass die Haftbedingungen tatsächlich furchtbar waren und zahnlose Zellengenossen namens Bubba wirklich existierten. Sie fanden es ungerecht, dass Billy nicht auf Kaution freikam oder Cousin Lou – der betrunken drei Teenager totgefahren hatte – in dasselbe Gefängnis gesteckt wurde wie die echten Mörder. Im Laufe der Jahre hatte Levenson gelernt, ihrer Entrüstung Gehör zu schenken, schließlich waren es die Verwandten, die seine Rechnung bezahlten. Doch bei diesem Fall war es anders. In Anbetracht der Umstände fiel es ihm schwer, Ärger darüber vorzutäuschen, dass Marquette nicht auf Kaution freigekommen war und Mama und Papa ihn nicht besuchen durften. Als das Schweigen unbehaglich wurde, öffneten sich endlich die Stahltüren, und Mel Levenson
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