Vater unser
im Grunde also nichts mehr zu verlieren. Er wird alles tun, um ein Ticket in die nächste Luxus-Klapse zu ergattern.»
« Was, wenn er wirklich krank ist?», warf Julia leise ein.
« Ich kann zwar nicht behaupten, ich wüsste über Schizophrenie Bescheid, aber du planst drei Schritte voraus, als gäbe es gar keinen Zweifel daran, dass er nur so tut. Gibt es nicht zumindest die Möglichkeit, dass er wirklich krank ist?» Sie konnte Marquettes merkwürdig leeren Blick nicht vergessen. Wie er sie anstarrte. Durch sie hindurchstarrte. Das unangenehme Gefühl von gestern war immer noch da, es war ihr tief in die Knochen gedrungen. Und jagte ihr nun einen Schauer über den Rücken. Je länger sie sich mit Marquette beschäftigte, desto tiefer, schien es, wurde sie unwillkürlich in ihre eigene Vergangenheit gezogen. Es war, als stünde sie knöcheltief in einer Strömung, die immer stärker an ihren Füßen riss. Dieser Fall ist zu nah dran, Julia. Er bringt nur – Verzweiflung. Sie verbannte Tante Noras Prophezeiung aus ihrem Kopf.
« Vielleicht sollten wir abwarten, was die Ärzte sagen.»
« Fast jeden Tag, Julia», begann Rick kopfschüttelnd, « versucht jemand, ein Ticket in diesem Bus zu ergattern. Warum? Ganz einfach. Wer sich in der Klapse gut benimmt, darf irgendwann wieder raus. Es ist das Ticket zur Freiheit. Und alles ist besser als das Leben drüben im Florida State Prison. Für jemanden wie David Marquette, der entweder mit der Todeszelle oder mit lebenslänglich ohne die Chance auf Bewährung rechnet, ist das der einzige Weg hinaus. Und falls er für unzurechnungsfähig erklärt wird, ist es das gewesen, verstehst du? Wenn die Ärzte erst einmal beschließen, dass er keine Gefahr mehr für sich und andere darstellt, ist er auf freiem Fuß, und weder Staat noch Richter können irgendetwas tun. Egal, ob er einen oder hundert Leute umgebracht hat. Hör mal, ich habe schon alles gesehen – von Angeklagten, die mit Kot um sich warfen, bis zu Freaks, die mitten im Gerichtssaal eine schwarze Messe abhielten. Aber von all diesen Typen waren nur zwei wirklich verrückt – zwei in zwanzig Jahren. Du musst mir verzeihen, dass ich daher ein bisschen skeptisch bin, wenn mir plötzlich jemand erzählen will, Marquette sei verrückt. Denn meines Wissens nach war er zwei Tage bevor er sich entschloss, seine Familie abzuschlachten, noch ganz normal. Du darfst nicht von der Brutalität seiner Tat darauf schließen, dass er ein Wahnsinniger sein muss. Es macht ihn nur zu einem Mörder. Wir dürfen nicht zulassen, dass er Urlaub im Gitterbettchen macht. Falls das Gericht ihm Prozessunfähigkeit bescheinigt, dauert es geschlagene sechs Monate, bis er erneut vorgeführt wird. Ein halbes Jahr Privatunterricht bei den echten Irren in der Klapsmühle, das er dafür nutzen wird, seine Maskerade zu perfektionieren. Denk daran, dass die Zeit immer gegen uns arbeitet, Julia. Zeugen werden vergesslich, sterben oder wollen nicht mehr aussagen. Beweise gehen verloren oder werden zerstört. Die Geschworenen bekommen Mitleid mit dem Angeklagten, weil er so lange in einer Irrenanstalt eingesperrt war. Irgendwann glauben sie, dass mit ihm wirklich etwas nicht stimmt. Sie glauben, dass er doch nicht für seine Tat verantwortlich ist, und sprechen ihn frei. Also ist die Prüfung von Marquettes Prozessfähigkeit die erste und wichtigste Hürde, die wir jetzt nehmen müssen. Um seine Zurechnungsfähigkeit können wir uns später kümmern.» Zwei junge Tannenbäume, geschmückt mit schlichten weißen Lichtern zu beiden Seiten des Altars. Kränze aus duftenden Fichtenzweigen unter den Buntglasfenstern und eine Blumengirlande mit großen roten Schleifen am Geländer unter den Stationen des Kreuzwegs über den Kirchenbänken. Noch letzten Sonntag hatte ein Meer von Weihnachts— sternen den Raum gefüllt, doch heute waren sie alle fort. Es roch nach Weihnachten und Weihrauch, ein scharfer Geruch, von dem Julia übel wurde, wenn sie atmete. Ihre Mutter hatte Blumen geliebt. Jeden Freitag nach der Arbeit hatte sie sich auf dem Heimweg einen kleinen Strauß weißer Pfingstrosen gekauft, bei Country Arts & Flowers, dem Blumenladen an der Hauptstraße, der der einzige war, bei dem ihre Familie anschreiben ließ.
Die Rose der einfachen Leute, aber sie duftet trotzdem», hatte sie immer gesagt. Sie arrangierte die Blumen in der Vase ihrer Großmutter und stellte sie in der Küche neben die Spüle, damit sie sie ansehen konnte, wenn sie unangenehme
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