Vater unser
Pflichten verrichtete wie den Abwasch. Wenn die Blumen verblüht waren, sammelte sie die Blütenblätter und trocknete sie, um sie ins Badewasser zu streuen oder in kleinen Säckchen in die Schubladen zu legen. Julia zerdrückte das Taschentuch, das sie in der Hand hielt, bis sie das Gefühl hatte, nie wieder die Hand öffnen zu können. Auf einmal fragte sie sich, ob die Blumendekoration hier auch von Country Arts kam und ob die Ladeninhaber wussten, dass sie sie für ihre treueste Kundin angefertigt hatten. Oder würden erst ein paar Freitage vergehen, bis sie ihr Ausbleiben bemerkten?
Manchmal können wir die Wege des Herrn nicht verstehen», sagte Vater Ralph mit daunenweicher Stimme.
Wir können nicht wissen, was Er für uns im Sinn hat. Wir verstehen es nicht. Doch Er hat einen göttlichen Plan. Und Irene ist in Seinem Plan vorgesehen. Genauso wie Joseph. Und auch Andrew ist in Seinem Plan. Wir müssen lernen, dem Herrn zu vertrauen, und dem Plan, den Er für uns hat. Wir müssen lernen zu vergeben, denn das erwartet Er von uns ...» Plötzlich stand Tante Nora in der ersten Bankreihe auf. Wortlos packte sie Julia am Handgelenk, und gefolgt von Onkel Jimmy marschierte sie den Mittelgang hinunter, vorbei an den vielen vertrauten und fremden Gesichtern. Nachbarn, Freunde, Mr. Leach von der chemischen Reinigung, Klassenkameraden, Lehrer, die Kassiererin aus dem Supermarkt, vollkommen Fremde. Die Tragödie war auf der Tite-l seite der Zeitung gelandet, und die Leute kamen von überall her. Vater Ralph brach ab. Die ganze Kirche schien den Atem anzuhaken, als die drei über den Marmorfußboden zum Kirchenportal schritten.
« Julia? Hörst du mir zu?» Rick sah sie irritiert an.
« Ja», sagte sie abwesend.
« Tut mir leid. Ich musste an etwas denken. Was ist unser nächster Schritt?» Sie versuchte, sich auf die Buchrücken im Regal zu konzentrieren. Ihre Beine zitterten, und sie stützte die Arme auf die Knie, damit das Zittern aufhörte. Projektile und Eintrittswunden. Ein Kompendium. Sexualverbrechen und die psychopathische Persönlichkeit.
« Du siehst blass aus.» Fünf, vier, drei, zwei, eins – atmen. Sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins ...
« Nein, es geht schon. Zu viel Kaffee.» Sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins . ..
« Die Anhörung vor Farley muss so schnell wie möglich stattfinden», fuhr er fort, während er sie aufmerksam im Blick behielt. Dann öffnete er eine Schublade und nahm eine dicke Fallrechtssammlung heraus.
« Der Richter wird zwei, vielleicht sogar drei Seelenklempner beauftragen, ein psychologisches Gutachten über Marquettes Prozessfähigkeit zu erstellen. Dafür haben sie zwanzig Tage Zeit. Wir können keine Verzögerung gebrauchen, vor allem nicht so kurz vor den Weihnachts— ferien. Also müssen wir uns sofort sämtliche medizinischen Unterlagen, Polizeiberichte, Laborberichte, Zeugenaussagen und alles andere besorgen, was für die Gutachter wichtig sein könnte.»
« Ist es wichtig, wer das Gutachten erstellt?», fragte Julia und zählte im Kopf langsam von zehn bis eins.
« O ja. Farley wird uns fragen, wen wir vorschlagen, und das wird definitiv Christian Barakat sein. Der ist für uns am besten. Wenn wir noch einen Zweiten benennen dürfen, hätte ich gern Pat Hindlin oder Tom McDermot. Levenson wird natürlich Al Koletis haben wollen. Alle Verteidiger wollen Koletis. Der Typ ist nicht zu gebrauchen; bei ihm ist keiner prozessfähig, und wir sind alle verrückt.» Julias Handy klingelte. Auf dem Display erschien eine Durchwahl vom Gericht. Farley. Verdammt – sie hatte vollkommen vergessen, dass sie sich heute acht Fälle vom Hals schaffen musste. Sie sah auf die Uhr, und ihr Magen zog sich zusammen wie in der Achterbahn. Es war schon halb elf. Wahrscheinlich warteten alle auf sie.
« Ich muss ins Gericht», sagte sie schnell und stand auf. Ihre Beine zitterten immer noch, und ihr war schwindelig. Sie musste an die Situation mit Lat im Badezimmer der Marquettes denken. Die Vorstellung, in Gegenwart von Rick ohnmächtig zu werden, erschien ihr weitaus schlimmer.
« Ich bin viel zu spät. Wahrscheinlich gilt das schon als Missachtung des Gerichts.»
« Ich bringe dich rüber. Vielleicht kann ich dir ja aus der Patsche helfen und auch gleich den Termin für die Anhörung machen», sagte er und griff nach seinem Jackett. In diesem Moment klingelte sein Telefon. Er nahm ab und drückte auf den Lautsprecherknopf.
« Büro der Staatsanwaltschaft. Bellido.» Es war
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