Vater unser
Zeugenvernehmungen durchführte, der die Fragen stellte und die Berichte schrieb. Die Ermittlung hatte zwar gerade erst begonnen, doch Rick würde ihm wohl zumindest einen Teil der Schuld geben, auch wenn keiner die Richtung, die der Fall jetzt nahm, hätte vorhersehen können. Lat tat Julia leid. Sie war überzeugt, dass er seine Arbeit gut machte. Und anders als Steve Brill, der das Klischee eines Detectives aus dem Morddezernat genau erfüllte – cool, unsensibel, distanziert –, schien Lat weniger hartgesotten zu sein. Trotz seines gespannten Verhältnisses zu Rick war er ihr gegenüber stets offen und ehrlich und nahm sie trotz ihrer Unerfahrenheit ernst. Julia fühlte sich beinahe schuldig, weil sie das Telefonat mit angehört hatte – als hätte sie sich dadurch Ricks Position angeschlossen.
« Was nun?», fragte sie schließlich und brach das Schweigen. Rick holte tief Luft.
« Lat und Brill müssen alles ausgraben, was es über Dr. David Marquette zu wissen gibt – angefangen bei dem Tag, an dem er zur Welt kam, bis zu seinem Frühstück heute Morgen in der Zelle.» Er wirbelte den Stuhl herum.
« Diese Unzurechnungsfähigkeits-Geschichte hätte uns auf keinen Fall so kalt erwischen dürfen. Also sind wir entweder alle Vollidioten oder, wahrscheinlicher, Marquette ist ein Schwindler, denn er hat keine Krankengeschichte.»
« Im Bericht wird behauptet, Marquette hätte eine Zeit in der Psychiatrie verbracht – als junger Mann unter falschem Namen, irgendwo in der Nahe von Chicago. Und dass deshalb niemand davon wusste», sagte sie.
« Wie auch? Von seiner Familie redet keiner mit uns, und Jennifers Familie hatte anscheinend keine Ahnung. Vielleicht wusste nicht einmal Jennifer davon.»
« Jetzt wissen wir es jedenfalls. Wir besorgen uns einen Gerichtsbeschluss und lassen uns alle psychiatrischen oder medizinischen Berichte schicken, die wir finden können. Ich wusste nicht einmal, dass sie ihn drüben in den achten Stock stecken. Manchmal landen Häftlinge dort wegen Selbstmordgefahr. Das ist die Entscheidung der Gefängnisleitung. Vielleicht ist Marquette da auf die Idee gekommen. Wir befragen jeden Wachmann, wie sich Marquette verhält, wenn der Anwalt weg ist, die Kameras ausgeschaltet sind und kein Arzt sich Notizen macht. Wir müssen sämtliche Informationen über die Krankheit zusammentragen – was sie auslöst, wie sie behandelt wird, welche Auswirkungen sie haben kann. Ich will die aktuellsten Forschungsergebnisse sehen. Eines weiß ich jedenfalls: Nur weil man schizo ist oder manisch oder gerade depressiv drauf, gibt einem das noch lange nicht das Recht, ungestraft zu töten. Nicht hier in Florida. Und erst recht nicht bei mir.» Er hielt kurz inne.
« Hast du schon einmal eine Anhörung zur Prüfung der Prozessfähigkeit durchgeführt?» Julia hätte gern ja gesagt, doch sie musste den Kopf schütteln. Rick seufzte und deutete auf das Gesetzbuch, das ganz oben auf ihren Aktenkisten thronte. Julia sah ihm an, dass er in diesem Moment Zweifel bekam – der Fall wurde viel zu kompliziert für eine Anfängerin.
« Lies die Paragraphen 3.210 und 3.211», sagte er.
« Lerne sie auswendig. Levenson behauptet, sein Mandant sei nicht imstande, an der Verhandlung teilzunehmen – was nichts mit seiner Unzurechnungsfähigkeit in der Tatnacht zu tun hat, sondern mit seiner Fähigkeit, dem Prozess zu folgen. Unzurechnungsfähigkeit ist nur ein juristischer Begriff, keine medizinische Diagnose. Bevor der Prozess beginnt, muss Farley entscheiden, ob Marquette überhaupt prozessfähig ist. Begreift er, welche Anklage gegen ihn erhoben wird und welche Strafe ihn erwartet? Versteht er, was bei der Gerichtsverhandlung vor sich geht? Was ein Anwalt ist und warum er einen braucht? Wird er während der Verhandlung ruhig neben seinem Anwalt sitzen oder herumtoben und erzählen, er würde jede Nacht von kleinen grünen Männchen entführt?» Rick schwieg für einen Moment.
« Wir dürfen nicht vergessen, dass dieser Mann noch vor drei Wochen erfolgreich Operationen durchgeführt und Vorträge über Hüfttransplantationen gehalten hat. Wir müssen sicherstellen, dass das sowohl dem Richter als auch den psychologischen Gutachtern klar ist. Und natürlich den Geschworenen. Marquette ist gebildet, und er ist intelligent – Studium an der Northwestern, Fellow an der Temple University –, und das macht ihn sehr viel gefährlicher als den durchschnittlichen Kriminellen. Zudem sieht er sich der Todesstrafe gegenüber, hat
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