Vater unser
aus, dass sie jeden Moment damit rechnete, eine Hexe vorbeifliegen zu sehen.
Wenn er die ganze Zeit dick und rund wäre, würde keiner mehr gucken. Die Leute würden ihn gar nicht bemerken. Wie bei der Sonne. Keiner schert sich um die Sonne, bis sie verschwindet und es ein paar Tage regnet. Und dann wollen sie plötzlich alle wiederhaben.» Andy war so schlau. Er wird einmal weit kommen, sagte Mami immer. Und Julia hoffte, dass er sie dahin mitnehmen würde. Sie kämpfte gegen die Tränen an. Dieser Fall ist zu nah dran. Er bringt nur – Verzweiflung. Ist es das? Ist das die Verzweiflung, Tante Nora? Oder war das leere, hohle Grauen erst der Anfang ... Sie starrte das Telefon an, wie so oft an diesem Abend, an diesem Tag, in dieser Woche. Doch jetzt griff sie zum Hörer und wählte endlich die Nummer.
« Hallo?», meldete sich nach dem zweiten Klingeln eine verschlafene Stimme.
« Onkel Jimmy?» Schuldbewusst drückte Julia die Zigarette aus. Sie warf einen Blick auf die Uhr ihres DVD-Players und stellte fest, dass es bereits halb zwölf war. Sie ärgerte sich über sich selbst.
« Julia? Schätzchen, ist was passiert?», fragte Jimmy und hörte sich auf einmal hellwach an. Hätte sie bloß vorher auf die Uhr gesehen. Während ihre Tante bis drei Uhr morgens am Herd stand, lag Onkel Jimmy häufig schon um zehn in den Federn. Julia sah ihn vor sich, aufrecht im Bett sitzend, die wenigen verbliebenen Haare, die er sonst sorgsam über seine Glatze legte, in allen Richtungen verstrubbelt.
« Entschuldige, dass ich so spät anrufe, Onkel Jimmy. Ich wollte eigentlich mit Tante Nora sprechen», sagte sie leise.
« Wie spät ist es denn?»
« Schon nach elf, vielleicht versuche ich es lieber morgen nochmal ...»
« Ist das Julia?», erklang gedämpft die Stimme ihrer Tante.
« Ist was passiert?»
« Warte kurz, Kleines. Ich gebe sie dir.» Dann hörte Julia, wie Jimmy zu Nora sagte:
« Ich weiß nicht, worum es geht, sie will mit dir reden.»
« Julia. Was ist los?», fragte Nora mit einem beunruhigten Unterton in der Stimme.
« Nichts, Tante Nora. Ich wollte dich bloß etwas fragen.»
« Um halb zwölf in der Nacht? Geht es dir wirklich gut? Soll ich zu dir kommen, Liebes?»
« Ich wollte euch nicht wecken.»
« Das hast du nicht. Ich sitze am Esstisch und schneide Coupons aus. Jimmy war nur als Erster am Telefon.» Sie lachte erleichtert.
« Um die Uhrzeit habe ich schon gedacht, es wäre jemand gestorben.»
« Ich, ah, ich bin gerade erst mit der Arbeit an meinem Fall fertig geworden.»
« Ach.» Das Lachen brach ab.
« Der Mordfall? Ich habe die Zeitung gelesen. Es heißt, der Mann ist wahnsinnig.»
« Ja, und ich ...» Julia zögerte und schloss die Augen.
« Ich wollte dir ein paar Fragen über Andrew stellen.» Am anderen Ende der Leitung blieb es still.
« Nora? Bist du noch da?»
« Warum willst du etwas über ihn wissen?», fragte sie leise. Es fiel ihr viel schwerer, als sie gedacht hatte.
« Ich habe viel nachgedacht – über jene Nacht, aber auch über das Jahr davor. Und darüber, wie anders damals alles war.» Was ist los mit ihm, Mama?», fragte Julia und versuchte, an ihrer Mutter vorbei die Treppe hinunterzuspähen.
Wen schreit er denn an? Warum ist er so wütend? Ich habe Angst.» Ich habe gesagt, du sollst ins Bett gehen, Julia!», befahl ihre Mutter, und Furcht schwang in ihrer Stimme mit.
Sofort!» Dann verschwand sie wieder nach unten in den kleinen Raum, aus dem die Schreie drangen, und schloss die Tür hinter sich.
« Es gibt sonst niemanden, der mir etwas über ihn erzählen könnte, und ich dachte, dass meine Mutter mit dir vielleicht über ihn gesprochen hat», sagte sie schnell, um die Bilder aus ihrem Kopf zu vertreiben.
« Darüber, was mit ihm geschehen ist, als er aufs College ging. Und ich dachte, vielleicht –»
« Julia, das bringt doch nichts», unterbrach ihre Tante sie mit fester Stimme.
« Lass die Vergangenheit ruhen. Uns allen zuliebe. Bitte.»
« Was ist mit Andy passiert?», beharrte Julia.
« Ich muss es einfach wissen. Ich habe ein Recht darauf.»
« Ich will nicht darüber reden. Denk daran, was ich dir gesagt habe, Julia. Dieser Fall tut dir nicht gut. Du schläfst nicht, du stellst verrückte Fragen, du bist müde und gestresst.» Sie hielt inne.
« Und du trinkst. Ja, ich kann es hören.» Julia stellte das Weinglas auf die Fensterbank und ging zur Couch. Dann setzte sie sich und schloss die Augen.
« Du öffnest eine Tür, die besser geschlossen bleiben sollte. Dafür
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