Vater unser
haben Jimmy und ich all die Jahre gesorgt, dir zuliebe. Lass die Finger davon – zu deinem eigenen Besten.»
« Ich kann die Vergangenheit nicht einfach ruhenlassen. Ich verstehe dich ja, Tante Nora, aber ich muss wissen, was passiert –» Nora schnitt ihr mit übertrieben munterer Stimme das Wort ab.
« Ich glaube kaum, dass es diesen Sonntag klappt, Jimmy und ich fahren nach Jupiter zu einem Bridgeturnier. Aber wir müssen langsam Pläne für Weihnachten machen, nicht wahr? Ich weiß, dass Jimmy nächste Woche, wenn du vor Gericht musst, auf Moose aufpasst. Komm jederzeit zum Abendessen – wir freuen uns. Und Weihnachten, ich weiß ja nicht, aber vielleicht kannst du deinen Freund mitbringen. Aber jetzt will ich nicht länger telefonieren. Ich muss ins Bett. Ich hab dich lieb.» Im Hintergrund fragte Onkel Jimmy, was los sei, dann war die Leitung tot. Sie starrte auf den Hörer in ihrer Hand. Ganz gleich, wie sehr sie versuchte, die Erinnerungen fernzuhalten, sich auf andere Dinge zu konzentrieren – die Bilder stürmten auf sie ein, und Geister klopften an die Tür, überall, jederzeit. Klopften und klopften und wollten endlich wieder hereingelassen werden.
KAPITEL 41
HABEN SIE SIE?», schallte eine raue Männerstimme aus dem Sprechfunkgerät.
« Ja , sie ist im Wagen.»
Geschätzte Ankunftszeit?»
In zwei Minuten.» Der Detective, auf dessen Dienstmarke
Potter» stand, wandte leicht den Kopf und lächelte das junge Mädchen auf dem Rücksitz müde an. Dann warf er dem Fahrer einen Blick zu und richtete seine Aufmerksamkeit schließlich wieder nach vorn auf die Straße. Niemand sagte etwas. Als sie auf die Maple Street einbogen, sah Julia sofort die vielen blauen und roten Lichter, wie bei einer lautlosen ThanksgivingParade. Ihr Mund wurde trocken, sie biss sich auf die Unterlippe und schlang ihre Arme fest um sich. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Sie blickte aus dem Seitenfenster und versuchte, die Müdigkeit abzuschütteln. Noch vor zehn Minuten hatte sie im Haus ihrer besten Freundin im Bett gelegen und einen wunderbaren Traum gehabt, an den sie sich jedoch nicht mehr erinnern konnte. Jetzt saß sie auf dem Rücksitz eines Streifenwagens, in dem es nach Rauch, billigem Rasierwasser und Urin roch. Julia fragte sich, was Carly wohl gerade dachte. Sie schmeckte Blut auf ihrer Unterlippe. Welch einen Unterschied zehn Minuten bedeuten konnten. Die meisten Anwohner der Straße hatten zur Nacht ihre Weihnachtsbeleuchtung ausgeschaltet, doch hier und da blinkten einige bunte Lichter in den Bäumen und Sträuchern. Der Streifenwagen fuhr in Schrittgeschwindigkeit an den Julia so vertrauten Häusern und Vorgärten vorbei, in denen sich die Nachbarn in Schlafanzügen und Wintermänteln versammelt hatten, um zu sehen, was passiert war, Sie deuteten auf den Streifenwagen und versuchten, einen Blick auf den Rücksitz zu erhaschen. Julia vergrub ihr Gesicht in den Händen. Schließlich hielt der Wagen vor dem Haus ihrer Eltern. Detective Potter drehte sich erneut zu ihr um, und die Blaulichter der anderen Streifenwagen tanzten über sein Gesicht.
Es ist etwas Schlimmes passiert», brachte er schließlich mit leiser Stimme hervor. Julia nickte heftig. Sie wollte nicht, dass er weitersprach. Und sie hatte Angst, selbst etwas zu sagen, denn das Blut aus ihrer Lippe schien ihren ganzen Mund zu füllen. Potter seufzte traurig.
Wartest du eine Minute im Wagen, Kleines?» Es war keine Frage, sondern eine Aufforderung. Er nickte seinem Partner zu und stieg aus. Julia sah schweigend zu, wie die beiden über den gefrorenen, mit grauen Schneeresten gesprenkelten Rasen gingen und dann im Haus verschwanden. Zehn Jahre zuvor hatte ihr Vater die erste und letzte Lichterkette an ihrem Haus angebracht, und viele der großen bunten Glühbirnen waren inzwischen durchgebrannt. Ein alter Plastikweihnachtsmann winkte den Rentieren und glitzernden Schlitten in den Gärten der Nachbarn zu. Das Rot seines Mantels und seiner Mütze war im Laufe der Jahre zu einem stumpfen Rosa verblasst. Julia hatte die Dekoration dieses Jahr eigenhändig angebracht, weil niemand sonst aus ihrer Familie daran Interesse gezeigt hatte, für sie selbst ein Weihnachten ohne bunte Lichter und Figuren auf dem Rasen jedoch kein richtiges Weihnachten war. Leider hatte sie in der Garage nur den altersschwachen Weihnachtsmann und eine verwitterte Girlande gefunden. Julia drückte ihre flauschige Tasche an die Brust und sah zu,
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