Vater unser
wie sich im oberen Stockwerk gesichtslose Silhouetten hinter den Fenstern bewegten. Ihr Herz schlug wild – immer schneller, immer schneller – wie ein Frachtzug, der führerlos die Schienen entlangraste. Jeden Moment konnte er entgleisen. Eiseskälte drang in den Wagen und griff mit unsichtbaren dürren Fingern nach ihr. Sie zählte das Ticken, als der Motor abkühlte, und fragte sich, warum sie Detective Potter nicht gefragt hatte, was eigentlich passiert war, wo ihre Familie war oder wieso zwei Krankenwagen in der Auffahrt standen ... Etwas ist mit mir geschehen – ich weiß nicht, was. Mein früheres Ich ist zerbröckelt und auseinandergefallen, und aus den Trümmern ist eine Kreatur erstanden, die ich nicht kenne. Sie ist mir fremd und hat ein Geltungsbedürfnis, das mein früheres Geltungsbedürfnis lächerlich erscheinen lässt. Ihre Gedanken sind – Ketzerei. Ihr Name ist Wahnsinn. Sie ist die Tochter der Tollheit – und meinem Arzt zufolge haben beide ihren Ursprung in meinem eigenen Gehirn. Lara Jefferson, These are my sisters
KAPITEL 42
O MANN, sehen Sie beschissen aus!» Julia blickte von den Unterlagen auf ihrem Schreibtisch auf. Steve Brill stand mit einer Papiertüte in der Hand in der Tür und grinste schief, auf dem Kopf eine Baseballkappe von den Chicago Cubs.
« Sind Sie krank?», fragte er und ließ sich in den Stuhl vor ihrem Schreibtisch fallen.
« Soll ich Ihnen vielleicht einen Kaffee holen? Oder lieber einen Arzt?» Er sah sich in Julias vollgestopftem Büro um, wo sich die Aktenkisten gleich reihenweise an den Wänden stapelten. Die unfertigen Berichte türmten sich überall.
« Hier sieht’s ja aus wie in meiner Wohnung!», behauptete Brill.
« Ich glaube, wir beide würden uns glänzend verstehen, Jules. Anscheinend haben wir nämlich doch was gemeinsam: Wir lieben das Chaos.»
« Du bist immer so verdammt charmant», erklang es vom Korridor aus. Dann kam Lat zur Tür herein und hielt genau das in Händen, was Julia am allerwenigsten gebrauchen konnte – eine weitere Kiste.
« Ich versuche verzweifelt, ihn ein bisschen zu erziehen, Julia.»
« Das haben schon ganz andere versucht und sind kläglich gescheitert, Boss. Ich glaube, wer das schafft, den heirate ich.» Brill sah Lat an und klimperte kokett mit den Wimpern.
« Selbst wenn du es bist, Latty.»
« Träum weiter», erwiderte Lat und ließ die Kiste auf Brills Fuß fallen.
« Ignorieren Sie ihn einfach, Julia. So mache ich es.» Er setzte sich. Als er Julia ansah, runzelte er besorgt die Stirn.
« Sie sehen wirklich erschöpft aus. Ist alles in Ordnung?»
« Vielen Dank, Leute», entgegnete Julia und griff verlegen nach ihrer Brille. Offenbar hatte sie die Augenringe heute früh nicht dick genug überschrninkt.
« Was für eine Begrüßung. Farley zahlt es mir heim. Ich bin seit zwei Wochen ununterbrochen im Gerichtssaal. Das macht sich bemerkbar. Sonst bin ich o. k.» In Wahrheit war sie am Ende. Sie hatte seit einigen Nächten kein Auge zugetan. Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher, als einfach das Gehirn abschalten und schlafen zu können. Doch sobald sie einnickte, kehrten die Albträume zurück. Sie kannte noch immer nicht die Antworten auf die Fragen, die sie Tante Nora gestellt hatte. Als Staatsanwältin sollte es ihr nicht allzu schwerfallen, selbst herauszufinden, was genau damals passiert war, doch ein Teil von ihr weigerte sich, eine Anfrage durch den Computer laufen zu lassen oder beim Nassau County Police Department oben in New York anzurufen. Sie fürchtete sich vor der Wahrheit. Nora sollte ihr genau das sagen, was sie hören wollte, dann würde sie alle Zweifel abschütteln und in Frieden weiterleben können.
« Hat Sie unser Herr Staatsanwalt etwa die ganze Nacht wach gehalten?», fragte Brill.
« Nichts für ungut, aber der Mann ist manchmal ein richtiges Arschloch.» Er hob entschuldigend die Hände, bevor Julia überhaupt darüber nachgedacht hatte, wie diese Frage zu verstehen war. Sie spürte, dass sie rot wurde, und beugte sich vor, um in der Schublade nach einem Stift zu suchen. Sie wollte auf keinen Fall, dass Brill oder Lat von ihrer Beziehung mit Rick erfuhren. Das galt besonders für Lat.
« Ich schlafe schlecht. Das war schon immer so. Wollen Sie zu Rick?»
« Wir haben beschlossen, dass wir ab sofort lieber zu Ihnen wollen. Besser für die Augen. Und Ihr Charakter gefällt uns auch besser», sagte Lat grinsend und nahm Brill die Tüte aus der Hand.
« Wir sind heute Morgen aus Chicago
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