Vaterland
Lokomotive zieht langsam durch die Ei n fahrt, ihr Dampfablassen wirft Wolken aus gelbem Staub hoch. Er kommt vor uns zum Stehen. Die Tore schließen sich hinter ihm. Weidemann: »Das ist ein Tran s port von Juden aus Frankreich.«
Ich schätze die Länge des Zuges auf rund 6o Güterw a gen mit hohen Holzwänden. Die Männer und die Sonde r häftlinge scharen sich zusammen. Die Türen werden en t riegelt und aufgeschoben. Entlang des Zuges werden die gleichen Worte gebrüllt: »Alles raus! Nehmt das Handg e päck mit! Das große Gepäck bleibt in den Wagen!« Die Männer kommen zuerst heraus, vom Licht geblendet, springen auf die Erde - 1,5 m - und drehen sich dann um, um ihren Frauen und Kindern und den Älteren zu helfen und das Gepäck entgegenzunehmen.
Der Zustand der Deponierten: erbärmlich - dreckig, ve r staubt, halten Schalen und Becher und weisen auf ihre Münder und weinen vor Durst. Hinter ihnen liegen in den Wagen die Toten und die, die zu krank sind, sich zu bew e gen - Weidemann sagt, ihre Reise hat vor 4 Tagen bego n nen. SS-Wachmannschaften zwingen die Gehfähigen in zwei Reihen. Wenn die Familien getrennt werden, schreien sie einander zu. Mit vielen Gesten und Rufen marschieren die Reihen in verschiedene Richtungen ab. Diejenigen, die in gutem körperliche n Zustand sind, marschieren zum A r beitslager. Die and e ren ziehen auf den Baumschleier zu, Weidemann und ich folgen ihnen. Als ich zurückblicke, sehe ich, wie die Häf t linge in ihrer gestreiften Kleidung in die Güterwagen kle t tern und das Gepäck und die Leichen herauszerren.
8.30 Uhr: Weidemann schätzt die Größe der Kolonne auf nahezu 2000: Frauen, die Säuglinge tragen, und Ki n der, die sich an ihren Röcken festhalten; alte Männer und Fra u en; Heranwachsende; Kranke; Verrückte. Sie gehen zu fünft nebeneinander einen Schlackenweg von 300 Metern hinunter, durch einen Hof, dann über einen anderen Weg, an dessen Ende 12 Betonstufen in eine ungeheure unteri r dische Kammer führen, 100 Meter lang. Ein Schild gibt in verschiedenen Sprachen (Deutsch, Französisch, Griechisch, Ungarisch) bekannt: »Bäder und Desinfektionsraum«. Er ist hell erleuchtet, mit Dutzenden von Bänken und Hunde r ten von numerierten Haken.
Die Wachen brüllen: »Alles ausziehen! Ihr habt 10 M i nuten!« Die Leute zögern, sehen sich gegenseitig an. Der Befehl wird wiederholt, schärfer, u. dieses Mal befolgen sie ihn zögernd, aber ruhig. »Merkt euch eure Hakennummer, damit ihr eure Kleider wiederfindet!« Die Vertrauenshäf t linge aus dem Lager bewegen sich zwischen ihnen, flüstern Ermutigungen, helfen den Schwachen und Geistesschw a chen, sich auszuziehen. Einige Mütter versuchen, ihre Säuglinge in den Haufen abgelegter Kleider zu verstecken, aber die Kinder werden rasch entdeckt.
9.05 Uhr: Nackt schiebt sich die Menge durch weite E i chentüren, die von Wachtposten flankiert werden, in einen zweiten Raum, der so groß ist wie der erste, aber vollstä n dig leer, abgesehen von vier dicken viereckigen Säulen in Abständen von 20 Metern, die die Decke tragen. Am Fuß einer jeden Säule befindet sich ein Metallgitter. Nachdem die Kammer gefüllt ist, schwingen die Türen zu. Weid e mann winkt. Ich folge ihm durch den leeren Ausziehraum die Betonstufen hinauf an die Luft. Ich kann das Geräusch eines Automotors hören.
Über das Gras, das die Decke der Anlage bedeckt, ho l pert ein kleiner LKW mit dem Rot-Kreuz-Zeichen. Er hält an. Ein SS-Offizier und ein Arzt steigen aus, die Gasma s ken tragen u. vier Metallkanister. Vier gedrungene Beto n rohre ragen in Abständen von 20 Metern aus dem Gras hervor. Der Arzt u. der SS-Mann heben die Deckel von den Rohren u. kippen eine veilchenfarbene gekörnte Substanz hinein. Sie nehmen die Masken ab und zünden sich im Sonnenschein Zigaretten an.
9.09 Uhr: Weidemann führt mich die Stufen hinab z u rück. Das einzige Geräusch ist ein gedämpftes Trommeln, das vom anderen Ende des Raumes kommt, von jenseits der Koffer u. der Haufen noch warmer Kleidung. Eine kleine Glasscheibe ist in die Eichentür eingelassen. Ich lege mein Auge an sie. Die Handfläche eines Mannes schlägt gegen die Öffnung, und ich fahre mit dem Kopf zurück. Da sagt einer der Wachposten: »Das Wasser im Dusc h raum muß heute besonders heiß sein, weil sie so laut schreien.. Dra u ßen sagt Weidemann: Jetzt müssen wir 20 Minuten warten.
Ob ich Kanada besuchen möchte? Ich frage: was? Er lacht: »Kanada« - einen bestimmten
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