Vaterland
Wasser, hielt den Atem an und zählte. Er lauschte auf die gedäm p ften Geräusche und sah Muster wie Algenketten an sich vorbei in die Dunkelheit treiben. Vierzehn. Fünfzehn. Sechzehn ...« Mit Gebrüll tauchte er aus dem Wasser e m por, schlang Luft ein, strömte von Wasser. Er füllte seine Lungen noch einige Male, nahm dann einen mächtigen Schluck Sauerstoff, und tauchte erneut weg. Dieses Mal schaffte er es bis fünfundzwanzig, ehe ihm der Atem e x plodierte und er hochbrach und Wasser auf den Boden des Badezimmers überschwappen ließ. Würde er je noch ei n mal sauber werden?
Danach lag er da, die Arme baumelten über die Ränder der Wanne, sein Kopf war zurückgeworfen, und er starrte an die Decke wie ein Ertrunkener.
TEIL VI
SONNTAG, 19. APRIL 1964
Wie immer dieser Krieg auch enden mag, wir haben den Krieg gegen euch gewonnen; von euch wird niemand ü b rigbleiben, um Zeugnis abzulegen, aber selbst wenn j e mand übrigbleiben sollte, würde die Welt ihm nicht gla u ben. Es wird vielleicht Verdacht geben, Dis kussionen, U n tersuchungen von Historikern, aber es wird keine Gewi ß heit geben, denn wir werden die Beweise zusammen mit euch zerstören. Und selbst wenn einige Beweise übrigble i ben und einige von euch überleben sollten, werden die Leute doch sagen, daß die Vorgänge, die ihr b e schreibt, viel zu monströs sind, um glaubhaft zu sein: Sie werden sagen, daß das Übertreibungen der alliierten Pr o paganda sind und uns glauben, die wir alles abstreiten werden, und nicht euch. Wir werden die Geschichte der Lager diktieren.
Ein SS-Offizier, nach Primo Levi, >Die Atempause<
EINS
Im Juli 1953, als Xaver März gerade dreißig war und seine Arbeit aus kaum mehr bestand als der Verhaftung von H u ren und Zuhältern im Hamburger Hafen, hatten er und Kl a ra Ferien gemacht.
Sie waren in Freiburg am Fuße des Schwarzwalds ang e kommen, waren entlang des Rheins nach Süden gefahren und dann in seinem zerbeulten KdF-Auto ostwärts zum Bodensee und hatten in einem der kleinen Hotels am See während eines regnerischen Nachmittags, als ein Regenb o gen sich über den Himmel wölbte, die Saat gelegt, die sich zu Paule entwickelte.
Er konnte den Ort immer noch vor sich sehen: der schmiedeeiserne Balkon, drüben das Rheintal, durch de s sen weites Wasser sich die Flußkähne langsam dahinb e wegten; die Steinmauern der alten Stadt, die kühle Kirche; Klaras Rock, von der Hüfte bis zu den Knöcheln, sonnen b lumengelb.
Und da gab es etwas, das er immer noch sehen konnte: einen Kilometer flußab, den Abgrund zwischen Deutsc h land und der Schweiz überspannend - das Glitzern einer stählernen Brücke.
Vergiß den Versuch, durch die Luft- oder die Seehäfen zu entkommen: Die werden ebenso dicht überwacht und bewacht wie die Reichskanzlei. Vergiß die Grenzübergä n ge nach Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Ungarn, Jugoslawien, Italien - das hieße lediglich, die Mauern des einen Gefängnisses zu überklettern, um in den Freihof e i nes anderen zu fallen. Vergiß den Postweg, um die Dok u mente aus dem Reich hinauszuschaffen: Es werden zu viele Päckchen routinemäßig durch die Post geöffnet, als daß das sicher wäre. Vergiß es, das Material einem der anderen Korrespondenten in Berlin zu geben: Zum einen sähen die sich dann denselben Problemen gegenüber, und zum a n dern waren sie nach Charlies Worten so vertrauenswürdig wie Klapperschlangen. Die Schweizer Grenze bot die beste Hoffnung, die Brücke winkte. Jetzt versteck es. Versteck es alles.
Er kniete auf dem abgewetzten Teppich und breitete e i nen einzelnen Bogen braunen Packpapiers aus. Er machte einen sauberen Stapel aus den Dokumenten und klopfte ihre Ränder gerade. Aus seiner Brieftasche nahm er die Fotografie der Familie Weiß. Er starrte sie einen Auge n blick lang an und fügte sie dann zu dem Stapel. Er umw i ckelte das Ganze straff mit dem Papier und umwickelte es dann noch mit dem Klarsichtklebeband, bis das Päckchen sich so fest anfühlte wie ein Stück Holz.
Er saß da mit einem länglichen Päckchen, zehn Zentim e ter dick, das auf Druck nicht nachgab und dem Auge nichts verriet. Er atmete auf. Das war schon besser.
Er fügte eine weitere Schicht hinzu, diesmal aus G e schenkpapier. Goldene Buchstaben riefen ALLES GUTE! und VIEL GLÜCK!, und die Wörter schlängelten sich wie Banner zwischen Ballons und Champagnerkorken hinter einer lächelnden Braut und ihrem Bräutigam.
Von Berlin nach Nürnberg über die
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