Vaterland
Autobahn: 500 K i lometer. Von Nürnberg nach Stuttgart über die Autobahn: 15o Kilometer. Vo n Stuttgart aus schlängelte sich die Str a ße durch die Täler und Wälder Württembergs nach Wal d shut am Rhein: noch mal 15o Kilometer.
Insgesamt 8oo Kilometer.
»Wieviel Meilen sind das?«
»5oo. Glaubst du, daß du das schaffst?«
»Natürlich. Zwölf Stunden, vielleicht weniger.« Sie hockte auf dem Rand des Bettes und lehnte sich aufmer k sam nach vorne. Sie tru g zwei Handtücher, das eine um ihren Körper, das andere als Turban um ihren Kopf.
»Nicht hetzen - du hast vierundzwanzig. Sobald du glaubst, daß du eine sichere Entfernung zwischen dich und Berlin gelegt hast, ru f das Hotel Bellevue in Waldshut an und bestell ein Zi m mer - es ist keine Saison, also dürfte das keine Schwieri g keit machen.«
»Hotel Bellevue. Waldshut.« Sie nickte langsam, als sie es auswendig lernte. »Und du?.
»Ich komm ein paar Stunden später nach. Ich will vers u chen, gegen Mitternacht bei dir im Hotel zu sein.«
Er konnte sehen, daß sie ihm nicht glaubte. Er machte rasch weiter: »Wenn du bereit bist, das Risiko einzugehen, dann solltest du di e Papiere mitnehmen, und auch das ...« Aus seiner Tasche zog er den anderen gestohlenen Reis e paß. Paul Hahn, SS-Sturmbannführer,
geboren in Köln am 16. August 1925. Er war drei Jahre jünger als März, und man sah es ihm an.
Sie sagte: »Warum behältst du den nicht selbst?«
»Wenn ich verhaftet und durchsucht werde, werden sie ihn finden. Dann wissen sie auch, welche Identität du b e nutz t »Du hast überhaupt nicht die Absicht zu kommen.«
»Ich habe jede Absicht zu kommen.«
»Du denkst, du bist erledigt.«
»Stimmt nicht. Aber meine Chancen, 8oo Kilometer zu fahren, ohne entdeckt zu werden, sind geringer als deine. Das mußt du doc h begreifen. Deshalb müssen wir getrennt fahren.«
Sie schüttelte den Kopf. Er kam und setzte sich neben sie und streichelte ihre Wange und drehte ihr Gesicht zu seinem. »Hör zu. D u sollst auf mich warten - hör zu! -, warte auf mich im Hotel bis 8.30 Uhr morgen früh. Wenn ich bis dahin nicht eingetroffen bin, mußt d u ohne mich fahren. Warte dann nicht länger, denn das ist nicht mehr sicher.«
»Warum 8.3o Uhr?«
»Du mußt versuchen, die Grenze möglichst gegen 9 Uhr zu überqueren.. Ihre Wangen waren feucht. Er küßte sie. Er redete weiter. Si e mußte das begreifen. »9 Uhr ist die Stu n de, zu der der geliebte Vater des deutschen Volkes die Reichskanzlei verläßt, u m zur Großen Halle zu fahren. Seit Monaten hat man ihn nicht mehr gesehen - das ist ihre Art, Spannung aufzubauen. Du kannst siche r sein, daß die Grenzposten ein Radio in ihrem Postenhaus haben und z u hören. Wenn es überhaupt eine Zeit gibt, zu der sie dich noc h am ehesten einfach durchwinken, dann ist es diese. .«
Sie stand da und wickelte sich den Turban ab. Im schwachen Licht des Dachzimmers schimmerte ihr Haar weiß.
Sie ließ das zweite Handtuch fallen.
Helle Haut, weißes Haar, dunkle Augen. Ein Geist. Er mußte sich versichern, daß sie wirklich war, daß sie beide lebendig waren.
Er streckte die Hand aus und berührte sie.
Sie lagen umschlungen auf dem kleinen Holzbett, und sie flüsterte ihm ihre Zukunft zu. Ihr Flug würde morgen am frühen Abend auf dem New Yorker Flughafen Idlewild landen. Dann würden sie sofort zum Gebäude der >New York Times< gehen. Dort gab es einen Redakteur, den sie kannte. Als erstes mußte man Kopien ziehen - mindestens ein Dutzend - und dann so viel wie möglich so schnell wie möglich gedruckt bekommen. Dafür war die >Times< wie geschaffen.
»Und was, wenn sie es nicht drucken wollen?« Der G e danke an Menschen, die druckten, was immer sie wollten, war für ihn schwer faßbar.
»Gott, wenn die das nicht drucken, stell ich mich wie e i ner der Verrückten, deren Romane nicht gedruckt we r den, in die Fifth Avenue und verteil Kopien an die Passa n ten. Aber mach dir keine Sorgen - die werden das drucken, und wir werden die Geschichte verändern.«
»Aber glaubt uns irgendwer?« Der Zweifel war in ihm gewachsen, seit sie den Koffer geöffnet hatten. »Ist das nicht zu unglaubwürdig?«
Nein, sagte sie mit großer Gewißheit, denn jetzt hätten sie Tatsachen, und Tatsachen verändern alles. Ohne die habe man nichts, eine gähnende Leere. Aber leg Tatsachen vor - bring ihnen Namen, Daten, Befehle, Zahlen, Zeitt a feln, Ortsangaben, Kartenhinweise, Programme, Fotos, Diagramme, Beschreibungen - und
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