Vaterland
nach. »1953, glaube ich. Im Winter. Sie hatte Krebs.«
»Und in der ganzen Zeit danach haben Sie nichts mehr von ihm gehört? Gibt es noch andere Brüder oder Schwe s tern?« »Nein. Nur uns beide. Gelegentlich hat er geschri e ben. Vor zwei Wochen hab ich einen Brief zu meinem G e burtstag von ihm bekommen.« Sie kramte in ihrer Handt a sche und zog ein einzelnes Blatt Briefpapier hervor - gute Qualität, cremefarben und dick, mit einem Stich des Schwanenwerder Hauses als Kopf. Die Han d schrift war gestochen, die Botschaft so formell wie eine amtliche Mi t teilung. >Meine liebe Schwester! Heil Hitler! Ich sende Dir zu Deinem Geburtstag Grüße. Ich hoffe sehr, daß Du Dich ebenso guter Gesundheit erfreust wie ich. Josef.. März fa l tete es wieder zusammen und gab es ihr zurück. Kein Wunder, daß ihn niemand vermißt hatte.
»Hat er in seinen anderen Briefen jemals etwas erwähnt, das ihn beunruhigte?« »Worüber hätte er beunruhigt sein sollen?« Sie spie die Worte aus.
»Edith hat im Krieg ein Vermögen geerbt. Sie hatten Geld. Er lebte in angenehmsten Umständen. Und wie.« »Sie hatten keine Kinder?«
»Er war unfruchtbar.« Sie sagte das ohne Mitgefühl, als ob sie seine Haarfarbe beschriebe. »Edith war so unglüc k lich. Ich glaube, das hat sie umgebracht. Sie hockte da a l lein in dem großen Hauses war so was wie psychischer Krebs. Sie liebte Musik - sie spielte wunderbar Klavier. Ein Bechstein; ich erinnere mich. Und er - er war ein so kalter Mann.« Jäger grummelte von der anderen Seite des Ra u mes: »Sie haben also nicht viel von ihm gehalten?«
»Nein, hab ich nicht. Oberhaupt nicht viel.« Sie wandte sich wieder März zu. »Ich bin seit vierundzwanzig Jahren Witwe. Mein Mann war Aufklärer bei der Luftwaffe, abg e schossen über Frankreich. Ich bin nicht mittellos zurückg e blieben - keineswegs. Aber die Pension ... sehr klein für j e manden, der an etwas Besseres gewohnt war. Und kein einz i ges Mal in all den Jahren hat Josef angeboten, mir zu he l fen.«
»Was ist mit seinem Bein?« Das war wieder Jäger, sein Ton war feindselig. Er hatte sich offenbar entschlossen, in diesem Familienstreit die Partei Bühlers zu ergreifen. »Was ist damit passiert?« Sein Benehmen war so, als glaube er, sie habe es gestohlen. Die alte Dame übersah ihn und ric h tete ihre Antwort an März.
»Er hat nie darüber gesprochen, aber Edith hat es mir e r zählt. Es passierte 1951, als er noch im Generalgouvern e ment war. Er fuhr mit einer Eskorte von Krakau nach Ka t towitz, als sein Auto von polnischen Partisanen übe r fallen wurde. Eine Landmine, sagte sie. Der Fahrer wurde getötet. Josef hatte das Glück, nur einen Fuß zu verlieren. Danach ist er aus dem Regierungsdienst ausgeschieden.« »Aber er ging immer noch schwimmen?« März blickte aus seinem Notizbuch auf. »Wissen Sie, daß wir ihn in Badehosen g e funden haben?«
Sie lächelte schwach. »Mein Bruder betrieb alles fan a tisch, Herr März, ob es nun um Politik ging oder um seine Gesundheit. Er rauchte nicht, er rührte niemals Alkohol an, und er trieb jeden Tag Sport, trotz seiner... Behinderung. Deshalb überrascht es mich nicht im geringsten, wenn er schwimmen war.« Sie setzte das Glas ab und hob ihren Hut auf. »Ich möchte jetzt nach Hause, wenn ich darf.« März stand auf, hielt ihr die Hand hin und half ihr auf. »Was hat Dr. Bühler nach 1951 gemacht? Da war er doch erst - was? - so in den frühen Fünfzigern?«
»Das ist das Merkwürdige.« Sie öffnete ihre Handtasche und nahm einen kleinen Taschenspiegel heraus. Sie übe r prüfte, ob ihr Hut gerade saß, und steckte mit nervösen, zittrigen Fingerbewegungen einige lose Haare weg. »Vor dem Krieg war er so ehrgeizig.« Er arbeitete achtzehn Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche. Aber als er aus Krakau kam, hat er aufgehört. Er hat nicht einmal die Juristerei wieder aufgenommen. Seit über zehn Jahren saß er, nachdem die arme Edith gestorben war, den lieben la n gen Tag in diesem großen Haus herum und tat nichts«
Zwei Stockwerke tiefer ging in den Kellern des Leiche n schauhauses SS-Chirurg August Eisler von der Kr i po-Abteilung VDa (Pathologie) seiner Arbeit mit brutalem Vergnügen nach. Bühlers Brustkorb war im Standardve r fahren geöffnet worden: ein Y-Einschnitt, ein Schnitt von jeder Schulter zur Magenhöhle, eine gerade Linie hinab zum Schambein. Jetzt hatte Eisler seine Hände tief im I n neren des Bauches, seine grünen Handschuhe schimmerten rot, und er
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