Vaterland
hin, als März zurückkam, und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ausgezeichnet. Nun finde ich die Aussicht, 1500 Signale der Ersten Panzera r mee unter Kleist zu sortieren, schon fast erträglich, Er st o cherte in seinen Zähnen. »Wir sollten uns häufiger treffen. Ilse fragt immer: Wann bringst du endlich Xavi mal mit?« Er lehnte sich vor: »Hör zu, da ist eine Frau in den Arch i ven, die arbeitet an der Geschichte des Bundes Deutscher Mädel in Bayern von 1935 bis 195o. Eine pha n tastische Frau. Ihr Mann ist im letzten Jahr an der Ostfront verscho l len. Armer Teufel. Wie auch immer: du und sie. Was hältst du davon? Wir könnten euch beide einladen, sagen wir nächste Woche?« März lächelte. »Du bist wirklich nett.« »Das ist keine Antwort.«
»Stimmt.« Er pochte auf die Fotokopie. »Kann ich die behalten?« Halder zuckte die Achseln. »Warum nicht?« »Noch was.« »Na los.«
»Staatssekretär beim Generalgouvernement. Was genau wird er da getan haben?«
Halder spreizte die Hände. Die Handrücken waren dicht mit Sommersprossen übersät, Büschel rotgoldenen Haares kräuselten sich aus den Manschetten. »Er und Frank hatten die absolute Macht. Sie machten, was sie wollten. Damals dürfte die Wiederansiedelung Vorrang vor allem anderen gehabt haben.«
März schrieb »Wiederansiedelung« in sein Notizbuch und umgab es mit einem Kreis. »Wie ging das vor sich?« »Was soll das? Ein Seminar?« Halder stellte die Teller vor sich zu einem Dreieck zusammen - zwei kleinere links, den größeren rechts. Er schob sie so zusammen, daß sie ane i nanderstießen. »Das hier ist Polen vor dem Krieg. Nach '39 wurden die westlichen Provinzen« er tippte auf die klein e ren Teller »heim ins Reich geführt. Reichsgau Da n zig-Westpreußen und Reichsgau Wartheland.«
Er schob den größeren Teller beiseite. »Und das wurde zum Generalgouvernement. Der Rumpfstaat. Die beiden westlichen Provinzen wurden germanisiert. Das ist zwar nicht mein Gebiet, weißt du, aber ich habe einige Zahlen gesehen. 1940 war die Zielsetzung eine Dichte von 100 Deutschen pro Quadratkilometer. Und das haben sie binnen drei Jahren geschafft. Eine unglaubliche Operation, wenn man bedenkt, daß damals noch der Krieg tobte.« »Wie vi e le Menschen waren betroffen?«
»Eine Million. Die SS-Rasseämter trieben Deutsche an Orten auf, von denen man nicht einmal geträumt hätte - in Rumänien, Bulgarien, Serbien, Kroatien. Wenn der Sch ä del die richtigen Maße hatte und man aus dem richtigen Dorf kam - bekam man eben seinen Fahrschein.« »Und Bühler?«
»Ach ja. Um in den neuen Reichsgauen Platz für t Mill i on Deutsche zu schaffen, mußte man 1 Million Polen rau s schaffen.« »Und die gingen ins Generalgouvern e ment?«
Halder wandte den Kopf um und blickte sich verstohlen um, ob ihn auch niemand hören könne - den »deutschen Blick» nannten die Leute das. »Sie mußten auch mit den Juden fertig werden, die aus Deutschland und den westl i chen Ländern vertrieben wurden - aus Frankreich und Ho l land und Belgien«»Juden?«
»Ja doch. Bleib leise.« Halder sprach so leise, daß Märe sich über den Tisch lehnen mußte, um ihn zu verstehen. »Du kannst dir vorstellen - das reine Chaos. Überfüllung. Hunger. Seuchen. Nach dem, was man so hört, ist das G e biet immer noch das reinste Scheißloch, egal, was sie s a gen.«
Jede Woche veröffentlichten Zeitungen und Fernsehen Aufrufe vom Ostministerium an Siedler, die willens sind, ins Generalgouvernement zu ziehen. »Deutsche! Fordert euer Geburtsrecht!
Einen Bauernhof - kostenlos! Einkommen in den ersten fünf Jahren garantiert!« Die Anzeigen zeigten glückliche Kolonisten, die in Luxus lebten. Aber Berichte über die wirkliche Lage waren durchgesickert - von einer Existenz, die durch schlechte Böden, knochenbrechende Schwersta r beit und trübselige Satellitenstädte bestimmt wurde, in die sich die Deutschen bei Dämmerung zurückziehen mußten, aus Angst vor den örtlichen Partisanen.
Das Ge neralgouvernement war da schlimmer als die Ukraine; schlimmer als Ostland; schlimmer sogar als Mu s kowien. Ein Kellner kam und bot mehr Kaffee an. März winkte ab. Als der Mann außer Hörweite war, fuhr Halder mit derselben leisen Stimme fort: »Frank regierte alles aus dem Wawel in Krakau. Dort dürfte also auch Bühler stati o niert gewesen sein. Ich hab einen Freund, der da in den amtlichen Archiven arbeitet. Was der für Geschichten kennt ... Der Luxus war offenbar unglaublich.
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