Vaterland
drehte und schnitt und zerrte. März und Jäger lehnten neben der offenen Tür an der Wand und rauchten Jägers Zigarren.
»Haben Sie schon gesehen, was euer Mann zu Mittag gegessen hat? Zeigen Sies Ihnen, Eck.«
Eislers Assistent wischte sich die Hände an der Schürze ab und hielt einen durchsichtigen Beutel hoch. Darin b e fand sich etwas Kleines und Grünes.
»Kopfsalat. Wird langsam verdaut. Bleibt stundenlang im Darm«
März hatte schon früher mit Eisler gearbeitet. Vor zwei Wintern, als der Schnee Unter den Linden blockierte und es auf dem Tegeler See Schlittschuhrennen gab, hatte man einen Flußbootskapitän namens Kempf aus der Spree g e zogen, vor Kälte fast tot. Er war im Krankenwagen auf dem Weg zum Spital gestorben. Unfall oder Mord? Die Zeit, zu der er ins Wasser gefallen war, war entscheidend. März hatte sich das Eis angesehen, das sich zwei Meter vom Ufer entfernt gebildet hatte: Er schätzte, daß fünfzehn Minuten das Äußerste waren, das man im Wasser überl e ben könnte. Eisler hatte fünfundvierzig gesagt, und seine Meinung überzeugte den Staatsanwalt. Das reichte, um das Alibi des Bootsmanns zu zerstören und ihn zu hängen.
Später hatte der Staatsanwalt - ein redlicher, altmod i scher Mann - März in sein Büro gerufen und die Tür abg e schlossen. Dann hatte er ihm Eislers »Beweise« gezeigt: Kopien von Dokuntenten, die als Geheime Reichssache abgestempelt und 1942, Dachau, datiert waren. Es handelte sich um einen Bericht über Erfrierungsexperimente mit verurteilten Gefangenen, der ausschließlich der Abteilung des SS-Generalarztes vorbehalten war. Die Männer waren mit Handfesseln in Tanks voller Eiswasser geworfen und in Abständen herausgezogen worden, um ihre Temperatur zu messen, bis sie starben. Fotografien lagen bei von Köpfen, die zwischen Eisschollen auf und nieder tauchten, und Diagramme, die den vorausgesagten und den wirklichen Temperaturverlust zeigten. Die Experimente hatten zwei Jahre gedauert und waren unter anderem von einem jungen Untersturmführer durchgeführt worden, von August Eis ler. An jenem Abend waren März und de r Staatsanwalt in eine Kneipe in Kreuzberg gegangen und hatten sich bis zur B e wußtlosigkeit betrunken. Am näc h sten Tag hatte keiner von ihnen erwähnt, was sich abg e spielt hatte. Sie hatten nie mehr miteinander geredet.
»Wenn Sie sich einbilden, ich rücke mit irgendeiner phantastischen Theorie heraus, März, dann vergessen Sies.«
»Das erwarte ich auch nicht.«
Jäger lachte. »Ich auch nicht.«
Eisler ignorierte ihre Erheiterung. »Er ist ertrunken, kein Zweifel. Die Lungen voller Wasser, er muß also noch geatmet haben, als er in den See ging.«
»Keine Schnitte?« fragte März. »Oder Quetschungen?«
»Wollen Sie herkommen und meine Arbeit tun? Nein? Dann glauben Sie mir: Er ist ertrunken. Es gibt keine Ko n tusionen am Kopf, di e darauf hinwiesen, daß man ihn g e schlagen oder unter Wasser gedrückt hätte.«
»Ein Herzanfalk Irgendeine Art Krampf?«
»Möglich«, räumte Eisler ein. Eck gab ihm ein Skalpell. »Aber das werde ich erst wissen, sobald ich eine vollstä n dige Untersuchun g der inneren Organe durchgeführt habe«
»Wie lang wird das dauern?«
»Solange es dauert.«
Eisler stellte sich hinter den Kopf von Bühler. Sanft strich er der Leiche das Haar aus der Stirn, auf sich zu, als ob er ein Fieber linder n wolle. Dann beugte er sich hinab und stieß das Skalpell durch die linke Schläfe. Er zog es in einem Bogen über die Stirn, unmittelba r unterhalb der L i nie des Haaransatzes. Es gab ein Kni r schen von Metall und Knochen. Eck grinste sie an. März nahm einen tiefe n Lu n genzug aus seiner Zigarre.
Eisler legte das Skalpell in eine Metallschale. Dann beugte er sich erneut hinab und arbeitete sich mit den Fi n gern in den tiefen Schnit t hinein. Nach und nach begann er, die Kopfhaut z u rückzuziehen. März drehte den Kopf weg und schloß die Augen. Er betete, da ß niemand, den er liebte oder mochte oder auch nur flüc h tig kannte, jemals durch die Schlachterarbeit einer Autopsie geschändet werde n müsse.
Jäger sagte: »Und was jetzt?
Eisler hatte eine kleine handgroße Kreissäge genommen. Er schaltete sie ein. Sie jaulte wie ein Zahnbohrer.
März nahm einen letzten Zug aus der Zigarre. »Ich de n ke, wir sollten jetzt gehen.«
Sie gingen den Korridor hinab. Hinter sich hörten sie aus dem Autopsieraum, wie sich der Ton der Säge vertie f te, als sie sich in de n Knochen fraß.
ZWEI
Eine
Weitere Kostenlose Bücher