Vaterland
Regierungsbeamter die Hände und die G e sichter weggerissen hatten. Er könnte es auf Seite drei des >Tag e blatt<, schaffen: »Fahnder stirbt bei rätselhafter Expl o sion vor der Kaserne.«
Er fuhr durch Schlachtensee, bis er einen Feinkostladen fand, wo er einen Laib Schwarzbrot, westfälischen Schi n ken und eine Viertelliterflasche schottischen Whisky kaufte. Noch schien die Sonne; die Luft war frisch. Er steuerte den Wagen westwärts zurück zu den Seen. Er würde etwas tun, was er seit Jahren nicht mehr gemacht hatte. Er würde pic k ni c ken.
Nachdem Göring 1934 Reichsjägermeister geworden war, hatte es einige Versuche gegeben, den Grunewald zu lichten. Kastanien und Linden, Buchen und Birken und Eichen waren angepflanzt worden. Aber das Herz war - wie schon vor tausend Jahren, als die Ebenen des nördl i chen Europas noch Urwald waren -, das Herz waren die hügeligen Wälder aus melancholischen Föhren geblieben. Aus diesen Wäldern waren fünf Jahrhunderte vor Christus die kriegerischen germanischen Stämme aufgetaucht; und in diese Wälder kehrten fünfundzwanzig Jahrhunderte sp ä ter mit Zelten und in Wohnwagen und meistens an W o chenenden die siegreichen germanischen Stämme zurück. Die Germanen sind eine Rasse von Waldbewohnern. Schlag Lichtungen in deinen Geist, wenn du willst; die Bäume warten nur darauf, sie wieder zu besetzen.
März parkte und nahm seine Vorräte und Bühlers Päc k chenbombe oder was immer das war, und ging vorsichtig auf einem steilen Pfad in den Wald hinein. Nach fünf M i nuten des Steigens kam er an eine Stelle, von der aus man einen klaren Blick auf die Havel und auf die rauchig blauen Baumhänge hatte, die sich in der Ferne verloren. Die Fö h ren rochen in der Wärme stark und süß. Über ihm rumpelte ein großer Jet durch den Himmel im Anflug auf den Berl i ner Flughafen. Als er verschwand, erstarb der Lärm, bis schließlich Vogelgezwitscher als einziges Geräusch blieb.
März wollte das Päckchen immer noch nicht öffnen. Es machte ihm Unbehagen. Also setzte er sich auf einen gr o ßen Stein - den zweifellos die zuständige Stadtbehörde g e nau zu diesem Zweck ganz zufällig hierhergeschafft hatte -, nahm einen Schluck Whisky und begann zu essen.
Von Odilo Globocznik - Globus - wußte März wenig, nur was man gerüchteweise hörte. Das Schicksal hatte Globus wie einen Wetterhahn hin- und hergedreht während der letzten dreißig Jahre.
Österreicher von Geburt und Bauingenieur von Beruf, war er Mitte der dreißiger Jahre Parteiführer von Kärnten und Herrscher in Wien geworden. Danach hatte es eine Zeit der Ungnade als Folge illegaler Devisenspekulationen geg e ben, denen ein Wiederaufstieg als Polizeichef im Genera l gouvernement gefolgt war, als der Krieg begann - dort mu ß te er Bühler gekannt haben, überlegte März. Bei Kriegsende hatte es einen zweiten Sturz gegeben nach - wohin doch? - Triest, glaubte er sich zu erinnern. Aber nach Himmlers Tod war Globus nach Berlin zurückg e kehrt, und jetzt hatte er eine nicht genau präzisierte Ste l lung in der Gestapo inne und arbeitete direkt unter Hey d rich.
Sein eingeschlagenes und brutales Gesicht war unve r kennbar, und Jost hatte es trotz des Regens und des schlechten Lichtes sofort erkannt. Ein Porträt von Globus hing in der Ruhmeshalle der Akademie, und Globus selbst hatte noch vor wenigen Wochen vor den in Ehrfurcht er s tarrten Kadetten eine Vorlesung über die Polizeistrukturen des Reiches gehalten. Kein Wunder, daß Jost so verän g stigt war. Er hätte die Orpo anonym anrufen und verschwinden sollen, ehe sie eintraf. Von seinem G e sichtspunkt aus hätte er sie am besten überhaupt nicht a n rufen sollen.
März hatte sein Schinkenbrot aufgegessen. Er nahm die Brotreste, brach sie in Stückchen und streute die Krümel auf den Waldboden. Zwei Schwarzdrosseln, die ihm beim Es sen zugesehen hatten, tauchten vorsichtig aus dem U n terholz auf und begannen, sie aufzupi c ken.
Er nahm den Taschenkalender heraus. Standardausgabe für Parteimitglieder, in jedem Papiergeschäft erhältlich. Nützliche Informationen vorne. Die Namen der Parteihi e rarchie: Regierungsmitglieder, Leiter der Kommissariate, Gauleiter. Staatliche Feiertage: Tag der Nationalen Wi e dergeburt 3o. Januar; Tag von Potsdam 21. März; Führers Geburtstag 20. April; Nationalfeiertag des Deutschen Vo l kes 1. Mai ... Karte des Reiches mit Angabe der Reisedauer der Eisenbahn. Berlin-Rowno 16 Stunden, Berlin-Tiflis 27 Stunden;
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