Vaterland
Berlin-Ufa 4 Tage ...
Der Taschenkalender selbst hatte für jede Woche zwei Seiten, und die Eintragungen waren so selten, daß März ihn zuerst für leer hielt. Er blätterte ihn aufmerksam durch. Am 7. März gab es ein kleines Kreuzchen. Beim 1. April hatte Bühler vermerkt »Geburtstag meiner Schwester«. Ein we i teres Kreuzchen gab es am 9. April. Zum 11. April ha t te er notiert Stuckart/Luther morgens 10«.
Schließlich hatte Bühler beim 13. April, dem Tag vor seinem Tod, ein weiteres Kreuzchen eingetragen. Das war alles. März übertrug die Angaben in sein Notizbuch. Er begann eine neue Seite. Der Tod von Josef Bühler. Lösu n gen. Die erste: Der Tod war ein Unfall, die Gestapo hatte davon einige Stunden vor der Benachrichtigung der Kripo erfahren, und Globus untersuchte lediglich die Leiche, als Jost vorbeikam. Absurd.
Na schön. Die zweite: Bühler war von der Gestapo ve r urteilt worden, und Globus hatte die Hinrichtung durchg e führt. Wieder absurd. Die »Nacht-und-Nebel«-Anweisung von 1941 war immer noch in Kraft. Bühler hätte ganz legal zu einem geheimen Tod in irgendeiner Gestapo-Zelle g e bracht werden können bei Einziehung seines Besitzes durch den Staat. Wer würde ihn betrauert haben? Oder nach seinem Verschwinden fragen?
Demnach also die dritte: Bühler war von Globus ermo r det worden, der seine Spuren verwischte, indem er diesen Tod zu einer Frage de r Staatssicherheit erklärte und die Untersuchungen selbst übernahm. Aber warum hatte man dann zugelassen, daß die Kripo überhaup t in die Sache verwickelt wurde? Und was war das Motiv von Globus? Und warum hatte man Bühlers Leiche an einem öffentl i chen Or t gelassen?
März lehnte sich an den Stein zurück und schloß die A u gen. Die Sonne auf seinem Gesicht ließ es in der Du n kelheit blutro t aufleuchten. Ein warmer Whiskydunst hüllte ihn ein.
Er mochte kaum mehr als eine halbe Stunde geschlafen haben, als er im Unterholz neben sich ein Rascheln hörte und etwas seine n Ärmel berühren fühlte. Im gleichen A u genblick war er hellwach, gerade rechtzeitig, um die weiße Blume und die Hinterläufe eines Reh s zwischen den Bä u men verschwinden zu sehen. Eine ländliche Idylle, zehn Kilometer entfernt vom Herzen des Reiches!
Entweder das oder der Whisky. Er schüttelte den Kopf und nahm das Päckchen auf.
Dickes braunes Papier, sauber gefaltet und verklebt. S o gar professionell verpackt und verklebt. Saubere Linien und scharfe Kanten,
ökonomischer Einsatz von Material und Arbeit. Das Musterbeispiel eines Päckchens. Noch nie hatte März einen Mann getroffen, de r so etwas gekonnt hätte - das mußte von einer Frau verpackt worden sein. Dann die Briefma r ken. Drei Schweizer Briefmarken, die klein e gelbe Blü m chen auf grünem Grund zeigten. In Zürich am 13.4. 1964 um 16.00 Uhr aufgegeben. Das war vorge s tern gewesen.
Er spürte, wie seine Handflächen zu schwitzen bega n nen, als er es mit übertriebener Sorgfalt auspackte, z u nächst das Klebeban d abzog und dann langsam Zentimeter für Zentimeter das Papier entfaltete. Er öffnete es stüc k weise. Im Inneren war ein e Pralinenschachtel.
Der Deckel zeigte flachshaarige Mädchen, die in rotg e würfelten Röcken auf einer blumigen Wiese einen Ma i baum umtanzten.
Hinter ihnen erhoben sich weißgipflig gegen einen stra h lend blauen Himmel die Alpen. In schwarzer gotischer Schrift aufgedruckt war zu lesen:
»Unserem geliebten Führer Geburtstagsgrüße, 1964.«
Aber da war etwas Eigenartiges. Die Schachtel war zu schwer, als daß sie nur Pralinen hätte enthalten können.
Er nahm ein Taschenmesser heraus und schnitt den Ze l lophanumschlag auf. Er setzte die Schachtel sanft auf den Stein. Mi t abgewandtem Gesicht und ganz ausgestrecktem Arm hob er den Deckel mit der Spitze seines Messers hoch. Im Inneren begann ei n Mechanis mus zu surren. Dann:
Lippen schweigen, 's flüstern Geigen:
Hab mich lieb!
All die Schritt e Sagen: Bitt e Hab mich lieb!
Jeder Druck der Händ e Deutlich mir's beschrieb,
Er sagt klar:'s ist wahr,'s ist wahr,
Du hast mich lieb!
Nur die Melodie natürlich, nicht der Text; aber den kannte er gut genug. Allein auf einem Hügel im Grunewald st e hend, lauschte März, während die Spieldose das Walze r duett aus dem 3. Akt der Lustigen Witwe spielte.
FÜNF
Die Straßen erschienen ihm während der Rückfahrt ins Zentrum Berlins unnatürlich ruhig, und als März den We r derschen Markt erreichte, entdeckte er auch den Grund. Die große
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