Vaterland
mit langen aristokratischen Fingern ein kleines Tier mit weißem Fell. Kein Hündchen; eher ein Wiesel.
Charlie hatte recht. Es war schön. Es schien das Licht des Tresorraums aufzusaugen und dann zurückzustrahlen. Die blasse Haut des Mädchens glühte - leuchtend wie die eines Engels. »Was bedeutet das?« flüsterte Charlie.
»Das mag der liebe Gott wissen« März fühlte sich u n deutlich betrogen. War das Schließfach nichts anderes als eine Außenstelle von Bühlers Schatzkammer? »Was weißt du über Kunst?«
»Nicht viel. Aber das kommt mir irgendwie bekannt vor. Darf ich?« Sie nahm das Tafelbild und hielt es auf Arme s länge. »Ich glaube, das ist italienisch. Sieh mal ihre Kle i dung - die Art, wie der Ausschnitt ihres Kleides eckig g e schnitten ist, die Ärmel. Ich würde sagen Renaissance. Sehr alt und sehr echt.« »Und sehr gestohlen. Leg es zurück.« »Müssen wir?«
»Natürlich. Es sei denn, du kannst dir eine gute G e schichte für den Zoll am Berliner Flughafen ausdenken.« Noch ein Gemälde: das war alles! Leise fluchend ließ März sich das Wachstuch durch die Finger laufen und kontro l lierte noch einmal den Pappkarton. Er stellte das Fach au f recht und schüttelte es. Nichts. Das leere Metall verhöhnte ihn. Worauf hatte er gehofft? Er wußte es nicht. Jedenfalls aber auf etwas, was ihm mehr Aufschluß als das hier ve r schafft hätte. »Wir müssen gehen«, sagte er. »Noch eine Minute.«
Charlie lehnte das Tafelbild gegen das Fach. Dann kauerte sie sich nieder und machte ein halbes Dutzend Aufnahmen. Dann wickelte sie das Bild wieder ein, legte es in sein Behältnis, und verschloß das Fach. März rief: »Wir sind fertig, Herr Zaugg. Danke.«
Zaugg erschien mit dem Sicherheitsbeamten - einen Bruchteil zu rasch, dachte März. Er vermutete, daß der Bankier versucht hatte, sie zu belauschen.
Zaugg rieb sich die Hände. »Ich nehme an, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?« »Vollkommen«
Der Wächter schob das Fach in seine Vertiefung zurück.
Zaugg verschloß die Tür, und das Mädchen mit dem Wiesel war wieder in der Dunkelheit vergraben. »Wir h a ben Boxen hier, die fünfzig Jahre oder länger unberührt liegen .. .«
Wie lange es wohl dauern würde, ehe s ie wieder ans Licht kann?
Sie fuhren schweigend mit dem Fahrstuhl hoch. Zaugg geleitete sie auf Straßenebene hinaus. »Und damit auf Wiedersehn.« Er schüttelte jedem von ihnen die Hand.
März fühlte, er solle noch etwas sagen, noch einen let z ten Zug versuchen. »Ich glaube, ich sollte Sie darauf au f merksam machen, daß in der vergangenen Woche zwei der gemeinsamen Inhaber dieses Kontos ermordet worden sind, und daß Martin Luther selbst verschwunden ist.«
Zaugg zwinkerte nicht einmal. »Mein Gott, mein Gott. Alte Kunden verscheiden und neue« - er wies auf sie - »nehmen ihren Platz ein. So dreht sich die Welt. Das einz i ge, dessen Sie versichert sein dürfen, Herr März, ist, daß gleichgültig, wer gewinnt, am Ende, wenn der Schlachte n qualm sich verzieht, die Banken in den schweizerischen Kantonen immer noch stehen werden. Einen guten Tag.« Sie standen auf der Straße und die Tür schloß sich bereits, als Charlie rief: »Herr Zaugg!«
Sein Gesicht erschien, und bevor er es zurückziehen konnte, klickte die Kamera. Seine Augen öffneten sich weit und sein kleiner Mund schmollte ein perfektes O der E m pörung.
Der Zürichsee lag dunstigblau da, wie ein Bild aus e i nem Märchen - eine Landschaft für Seeungeheuer und für Helden, sie zu bekämpfen. Wenn die Welt nur so wäre, wie man sie uns versprochen hat, dachte März. Dann würden sich jetzt Burgen mit spitzen Türmen durch diesen Dunst erheben.
Er lehnte sich gegen die feuchte Steinbalustrade vor dem Hotel und wartete auf Charlie, die ihre Rechnung beglich. Er wünschte sich, er hätte länger bleiben können - mit ihr ans Wasser gehen, die Stadt erforschen, die Hügel; in der Altstadt mit ihr essen; und jeden Abend mit ihr in sein Zimmer zurückkehren und sie da lieben, zum Klang des Sees ... Ein Traum. Fünfzig Meter zu seiner Linken saßen in ihren Wagen seine Beschützer von der Zürcher Polizei und gähnten. Vor vielen Jahren, als März noch junger B e amter der Hamburger Kripo war, hatte er den Befehl erha l ten, einen Häftling, der wegen Raubes lebenslang hatte, während eines eintägigen Sonderurlaubs zu begleiten. Der Prozeß des Mannes hatte in den Zeitungen gestanden; seine Jugendliebe hatte das gelesen und ihm geschrieben; hatte ihn
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