Vaterland
die: Michael Maguires Tochter. Das ist abgesprochen. Am Samstag ruft Stuckart das Mädchen an, um ein Treffen zu vereinbaren. Am Sonntag fliegt Luther in die Schweiz: nicht um Bilder oder Gelder zu holen, wovon sie in Berlin im Überfluß h a ben, sondern um etwas abzuholen, das dort während der drei Besuche zwischen dem Sommer 1942 und dem Frü h ling 1943 eingelagert worden ist. Aber es ist schon zu spät. Zu der Zeit, da Luther sich absetzte, die Botschaft aus Z ü rich schickte, in Berlin landete, waren Bühler und Stuckart bereits tot. Und also entschloß er sich, zu verschwinden und das mitzunehmen, was er aus dem Tresor in Zürich geholt hatte.
März lehnte sich zurück und erwog sein halbfertiges Puzzle.
Das war eine Version der Ereignisse, die ebenso wah r scheinlich war wie jede andere.
Charlie seufzte und bewegte sich im Schlaf, und k u schelte sich zurecht, um ihren Kopf an seine Schulter zu lehnen. Er küßte ihr Haar.
Heute war Freitag. Führertag war Montag. Er hatte nur noch das Wochenende. »O mein liebes Fräulein Maguire«, murmelte er. »Ic h fürchte, wir haben an der falschen Stelle gesucht.«
»Meine Damen und Herren! In Kürze beginnen wir mit der Landung auf dem Flughafen Hermann Göring. Bitte stellen Sie Ihre Sitz e wieder aufrecht und klappen Sie die Tische vor sich hoch...«
März zog seine Schulter vorsichtig, um sie nicht zu wecken, unter Charlies Kopf vor, sammelte seine Papie r stückchen ein und machte sich unsicher auf den Weg in den hinteren Teil des Flugzeugs. Ein Junge in der Uniform der Hitlerjugend kam aus der Toilette und hiel t ihm höflich die Tür auf. März nickte, ging hinein und schloß hinter sich ab. Ein schwaches Licht flackerte.
Das kleine Abteil stank nach ewig wiederaufbereiteter schaler Luft; nach billiger Seife; nach Fäkalien. Er hob den Deckel des metallene n Klosetts hoch und ließ die Papie r stückchen hineinfallen. Das Flugzeug bockte und schü t telte sich. Ein Warnlicht ging mit einem Ping an. ACH T UNG! KEHREN SIE AUF IHREN SITZ ZURÜCK!
Die Turbulenz ließ seinen Magen hochkommen. Hatte Luther sich so gefühlt, als sein Flugzeug auf Berlin heru n tersank? Das Metal l fühlte sich feuchtkalt an. Er drückte auf einen Hebel, und das Klosett wurde geflutet und seine Notizen von e i nem Wirbel blaue n Wassers aus der Sicht gesogen.
Die Lufthansa hatte die Toilette nicht mit Handtüchern, sondern mit feuchten kleinen Papiertüchern ausgestattet, die mit irgendeine r widerwärtigen Flüssigkeit imprägniert waren! März wischte sich durchs Gesicht. Er konnte die Hitze seiner Haut durch die glitschig e Textur fühlen. Wi e der eine Vibration, als ob ein U-Boot mit Tiefenbomben angegriffen würde. Sie gingen schnell runter. Er preßte sei n brennendes Gesicht gegen den kühlen Spiegel. Abta u chen, abtauchen, abtauchen...
Sie war wach und zog sich einen Kamm durch ihr dic h tes Haar.
»Ich dachte schon, du wärest abgesprungen.«
»Stimmt, der Ge danke ist mir auch gekommen.« Er b e festigte seinen Sitzgurt. »Aber vielleicht bist du meine Re t tung.«
»Du sagst die nettesten Sachen.«
»Ich sagte >vielleicht<« Er nahm ihre Hand. »Hör zu. Bist du sicher, daß Stuckart dir gesagt hat, er sei am Do n nerstag gekommen, u m sich die Nummer des Telefons g e genüber deiner Wo h nung aufzuschreiben?«
Sie dachte einen Augenblick lang nach. .Ja, ich bin s i cher. Ich erinnere mich, daß mich das denken ließ: Dieser Mann meint es ernst, de r hat seine Hausaufgaben g e macht.«
»Das denk ich mir auch. Die Frage ist nur, ob Stuckart auf eigene Rechnung gehandelt hat - ob er versucht hat, sich seine eigen e Fluchtroute aufzubauen - oder ob er dich a n gerufen hat im Verlauf einer Aktion, die er zuvor mit den anderen a b gesprochen hatte?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Und ob. Denk mal nach. Wenn er sich mit den anderen am Freitag abgesprochen hat, bedeutet das, daß Luther vielleicht weiß, wer d u bist, und das Verfahren kennt, mit dir in Kontakt zu tr e ten.«
Sie zog ihre Hand überrascht zurück. »Aber das ist doch verrückt. Er würde mir niemals trauen.«
»Du hast recht, es ist verrückt.« Sie waren durch eine Wolkenschicht hinabgestoßen; darunter lag eine weitere. März konnte die Spitz e der Großen Halle durch sie empor s techen sehen, als wäre es die Spitze eines Helmes. »Aber nimm mal an, Luther lebt noch irgendw o da unten, welche Möglichkeiten hat er dann? Der Flu g hafen wird überwacht. Ebenso die Häfen, die Bahnhöfe,
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