Vatermord und andere Familienvergnuegen
nicht sehr eleganter Weise; es war eher ein Torkeln bei hoher Geschwindigkeit, die Hauptverkehrsstraße runter. Wir fielen beinahe über unsere eigenen Füße, sprengten Pärchen, die uns entgegenkamen, auseinander und prallten von ihnen ab wie Querschläger. Ich erinnere mich, dass ich beim Rennen eine Melodie gesummt habe, eine Melodie aus einem Agentenfilm. Wir pesten durch die Innenstadt wie Besessene. Leute starrten uns ungläubig nach, als hätten sie noch nie jemanden rennen sehen. Vor einem Kino stand eine Gruppe sich nicht voneinander unterscheidender Geschäftsmänner und -frauen und wich nicht eine Handbreit zur Seite, als wir angerannt kamen, als sei dieser Quadratmeter Bürgersteig seit Generationen ihr angestammter Grund und Boden. Wir stießen sie weg und rannten zwischen ihnen hindurch. Einige schrien. Womöglich waren sie noch nie berührt worden. Der Mann im roten Parka hatte Füße wie eine Windsbraut. Er fegte über eine sehr belebte Straße, schlug Haken durch den nicht abreißenden Verkehrsfluss. Ich hatte erst einen Schritt vom Gehweg weggemacht, als Dads Hand nach meinem Handgelenk fasste und es beinahe abriss.
»Zusammen«, sagte er.
Hütet euch vor Vater und Sohn auf den Fersen des mysteriösen Schurken im roten Parka. Hütet euch vor dem gefährlichen Duo, das sich an den Händen hält, während es auf jemand Jagd macht. Wir bogen um eine Ecke und kamen in eine leere Straße. Es war niemand zu sehen. Man konnte meinen, wir hätten uns in einen in Vergessenheit geratenen Teil der Stadt verirrt. Wir verschnauften einen kurzen Moment. Mein Herz schlug gegen meinen Brustkorb wie eine Schulter, die eine hölzerne Tür aufbricht.
»Da drin«, sagte Dad.
Ein Stück die Straße hinunter war eine Kneipe. Wir gingen hin und blieben davor stehen. Offenbar hatte die Kneipe keinen Namen. Die Fenster waren geschwärzt, und man konnte nicht hineinsehen. Es war ein Lokal, dessen schlechte Beleuchtung Gefahr signalisierte. Schon von außen war klar: Es war eines jener Lokale, in denen ruchlose Gesellen jeden abstechen, der sie nach der Uhrzeit fragt, in denen Serienkiller ihre Sorgen vergessen, in denen Huren und Drogenhändler Telefonnummern austauschen und Soziopathen herzlich darüber lachen, dass sie wieder einmal mit Naturopathen verwechselt wurden.
»Willst du draußen warten?«
»Ich komm mit rein.«
»Es könnte ungemütlich werden.«
»Macht mir nichts.«
»Na dann, okay.«
Nur wenige Schritte, und wir standen vor der Garderobe. Der rote Parka schaukelte auf einem Kleiderbügel.
Auf der Bühne stand eine Band, deren Sänger eine Stimme hatte, als würde er auf Alufolie beißen. Über den Schnapsflaschen hinter der Theke hingen eine Geige, ein Akkordeon, eine Ukulele. Es sah aus wie in einem Pfandhaus. Zwei erschöpfte Barkeeper pausierten immer mal wieder, um sich ein Gläschen Tequila einzugießen. Dad bestellte ein Bier für sich, Limonade für mich. Ich wollte auch ein Bier, aber ich bekam Limonade. Mein Leben lang.
Dad und ich behielten die Garderobe im Auge und versuchten mehrere Stunden lang zu erraten, wer unser Mann sein könnte, aber man kann in einem Raum voller Gesichter einen Vandalen ebenso wenig ausfindig machen, wie man einen Ehebrecher oder einen Pädophilen erkennen könnte. Menschen tragen ihre Geheimnisse an versteckten Stellen, nicht im Gesicht. Im Gesicht tragen sie ihr Leid. Auch Verbitterung, wenn dafür noch Platz ist. Wir stellten trotzdem Vermutungen an, ich weiß nicht, worauf sie sich gründeten. Dads Wahl fiel auf einen kleinen, stämmigen Kerl mit Ziegenbärtchen. Der sei unser Mann, insistierte Dad. Ich war anderer Meinung und tippte auf einen Mann mit langem, braunem Haar und einem hässlichen, blauroten Mund. Dad fand, er sehe wie ein Student aus, nicht wie ein Vandale. Und was studiert er?
»Architektur«, sagte Dad. »Eines Tages baut er eine Brücke, die zusammenkrachen wird.«
»Werden dabei Leute sterben?« »Ja, eintausend.«
Während ich in Gedanken bei den tausend Toten war, bestellte Dad sich noch etwas zu trinken und bemerkte eine Frau mit wasserstoffblonden Haaren und Lippenstift an den Zähnen, die an der Theke lehnte. Er schenkte ihr sein Nummer-drei-Lächeln, das Lächeln, das er dann aufsetzte, wenn er sich um einen Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit herumzumogeln versuchte. Sie musterte ihn von oben bis unten, ohne den Kopf zu bewegen.
»Hi«, sagte Dad.
Sie zündete sich eine Zigarette an, und Dad rutschte einen
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