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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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Schande sagen, dass der Gedanke an diese entsetzlichen Taten mich nicht unbedingt ängstigte oder deprimierte, sondern zu Tränen langweilte. So satt hatte ich ihn.
     

9
    Ich hatte vom Flammenden Inferno seit einer Woche nichts gehört und nichts gesehen. Ich spielte ein Geduldsspiel mit dem Telefon und verlor. In meinem Kopf war das Telefon zu einem bizarren Surrogat von ihr geworden, ihre Verkörperung in Plastik. Das Telefon schwieg, weil sie schwieg. Ich begann, das Telefon zu hassen, als habe sie es mir als Vertretung geschickt, weil sie zu wichtig war, um sich selbst herzubemühen.
    Ich schlurfte durch das Labyrinth und beschloss, Anouk zu belästigen. Kurz nachdem wir ins Haus gezogen waren, hatte Dad ihr erlaubt, eines der Zimmer als Atelier zu benutzen. Außer sexy und nervend war Anouk auch so was wie eine Künstlerin, eine Bildhauerin. Das zentrale Thema ihrer Bilder war die Unterjochung der Frauen, die Entmannung der Männer und die darauffolgende Weiterentwicklung der Frauen hin zu einer höheren Bewusstseinsebene. Soll heißen, der Raum war voller Vaginas und sezierter Penisse. Es war ein beunruhigendes Genitalien-Potpourri: dünne, schwächelnde Penisse, in Lumpen gekleidet, blutige, leblose Penisse, deren Ähnlichkeit mit toten Soldaten auf einem düsteren Feld der Ehre keineswegs zufällig war, Penisse, um deren Schäfte Henkersschlingen lagen, Kohlezeichnungen von verängstigten Penissen, melancholischen Penissen, Penissen, die am Grab toter Penisse weinten... aber die waren noch nichts gegen die siegreichen Vaginas! Vaginas mit Flügeln, große, sich aufschwingende Vaginas, blinkende Vaginas, auf denen goldene Lichtflecken spielten, Vaginas auf grünen Stängeln, mit gelben Blütenblättern anstelle des Schamhaars, Vaginas mit breit grinsenden Mündern; es gab tanzende Vaginas, aus Ton modelliert, Gipsabdrücke von frohlockenden Vaginas, glückselige Kerzenvaginas mit Dochten wie die Rückholbändchen von Tampons. Die schreckenerregendsten Worte, die man in unserem Haus zu hören bekam, wurden von Anouk gesprochen, immer kurz vor unseren Geburtstagen. »Ich arbeite an was für dich«, sagte sie dann, und kein Lächeln war breit genug, um die Ozeane des Grauens, die darunter blubberten, vergessen zu machen.
    Anouk lag auf ihrer Bettcouch und machte »Rettet den Wald«-Schilder, als ich hereingeschlurft kam. Ich fragte gar nicht erst, welchen Wald.
    »He, hast du heute Abend Zeit?«, fragte sie.
    »Heute ist der falsche Tag, um mich zu bitten, irgendwas zu retten«, sagte ich. »So wie ich im Moment drauf bin, läge großflächige Zerstörung mehr auf meiner Linie.«
    »Es geht nicht um das hier. Ich mache die Beleuchtung bei einem Theaterstück.«
    Alles klar. Anouk war die meistbeschäftigte Frau, die ich kannte. Sie begann jeden Tag damit, eine lange Liste der Dinge zusammenzustellen, die sie sich vornahm zu erledigen, und am Ende des Tages hatte sie sie dann tatsächlich erledigt. Sie füllte jede Minute ihres Lebens mit Meetings, Protestaktionen, Yoga, Bildhauerei, Rebirthing, Reiki, Tanzkursen; sie trat Organisationen bei, sie trat schnaubend vor Empörung aus Organisationen aus; sie verteilte Flugblätter und schaffte es doch immer noch, katastrophale Beziehungen dazwischenzuschieben. Ich kannte niemanden, der sein Leben so sehr auf Betriebsamkeit aufgebaut hatte wie sie.
    »Ich weiß nicht, Anouk. Ist es eine professionelle Aufführung?«
    »Wie meinst du das?«
    Wie ich das meinte? Ich meinte, dass ich jedem das Recht zugestehe, eine Bühne zu betreten und mit dröhnender Stimme zu sprechen, es aber darum noch lange nicht als erträgliche Abend-Unterhaltung betrachte. Aufgrund früherer Erfahrungen konnte ich vorurteilsfrei sagen, dass Anouks Freunde das Laientheater zu einem neuen, unvorstellbaren Tiefstand führten.
    »Spricht Dad mit dir?«, fragte ich.
    »Natürlich.«
    »Ich dachte, nach neulich Abend wäre er eventuell drauf und dran, dich zu ermorden.«
    »Keineswegs. Es geht ihm bestens.«
    »Es geht ihm bestens? Ich dachte, er sei depressiv und selbstmordgefährdet? «
    »Kommst du jetzt mit zu der Theateraufführung oder nicht? Aber wieso frage ich überhaupt? Du kommst mit und basta.«
     
    Es gibt Theater, es gibt Laientheater, und dann gibt es noch irgendwelche Menschen, die in einem dunklen Raum gegeneinanderprallen und einen dafür zahlen lassen, dass man sich zwei Stunden lang vor Peinlichkeit windet. Dieses war von der letzteren Sorte, und jede Sekunde war eine

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