Vatermord und andere Familienvergnuegen
unerträglich. Dad versuchte krampfhaft, sich aus seiner paralysierenden Unentschlossenheit zu befreien, als Reynold mit den Fingern schnippte. Zweimal. So bekommen Reiche also, was sie wollen, dachte ich. Es funktionierte. Dad stoppte und begann sofort vorzulesen, was auf der Seite stand, die er just in diesem Moment aufgeschlagen hatte.
»Ein Themenrestaurant, das Motto ist Kannibalismus - jedes Gericht ist geformt wie ein Teil der menschlichen Anatomie.«
Die Idee hing in der Luft. Sie war idiotisch. Niemand gab einen Kommentar dazu ab. Dads Blicke stießen wieder auf sein Notizbuch herab und setzten ihre Suche fort. Reynold schnippte nicht wieder mit den Fingern. Das musste er nicht. Dad hielt willkürlich bei einer Idee inne, die er vorlas.
»Drogenschulung - Schulkinder eine Woche mit einem Junkie in einem baufälligen, besetzten Haus wohnen lassen. Kind wird Junkie zusehen, wie er sich einen Schuss setzt, sich erbricht, seine eigene Familie bestiehlt, am ganzen Körper wunde Stellen bekommt und sich letztlich eine Überdosis verpasst. Kind schreibt einen Aufsatz von fünfhundert Wörtern darüber und verliest ihn bei Junkie-Beerdigung, die als Schulausflug Pflichtveranstaltung ist. Jedes Mal, wenn ein Junkie stirbt, muss die Klasse ihn beerdigen, bis die Assoziation Herointod sich tief ins Unbewusste der Kinder eingeprägt hat.«
Er hatte seinen Verstand nicht eingeschaltet. Er spuckte nur Ideen aus. Und keine guten.
»Heranziehung zu gemeinnützigem Engagement, das die Obdachlosen dann dazu befähigt, in den Häusern von Bankern zu wohnen, und die geistig Verwirrten von der Straße holen und sie in den Badezimmern von Menschen aus der Werbebbranche scheißen lassen.«
»Die nächste«, sagte Reynold mit ruhiger Stimme.
»Prominente mit elektronischen Tags versehen wie Rinder, damit man, wenn einer die Straße entlangkommt...«
»Die nächste.«
»Anhand von Abgasemissionen, Wasserverbrauch, Sprays und nicht recycelbaren Materialien durchrechnen, welche Umweltschäden jeder Einzelne verursacht, sie ihm in Rechnung stellen und ihn oder sie verdonnern, den Gegenwert in Stunden oder Geld in eine Maßnahme zur Beseitigung von Umweltschäden zu stecken.«
Reynolds Augen flackerten gerade lange genug, um einen wissen zu lassen, was er dachte. »Wie kann man das zu Geld machen?«
»Kann man nicht.«
»Die nächste.«
»Jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in diesem Land zum Millionär machen.«
Reynold sagte nichts, und er sagte es mit den Augen. Seine Geringschätzung stand im Raum wie ein weiterer Gast. »Selbst wenn Sie wüssten, wie«, fragte er, »was hätten Sie davon?«
Eine berechtigte Frage. Dad wollte sie gerade beantworten, da sagte Reynold: »Na schön, Martin. Wir haben Ihnen zugehört. Jetzt möchte ich, dass Sie uns zuhören - ist das fair?«
»Na gut.«
»Wir möchten ein Fernsehspecial über Terry Dean machen. Die wahre Geschichte, wissen Sie. Sachen, die wir noch nicht gehört haben. Vielleicht einen Mehrteiler. An zwei aufeinanderfolgenden Themenabenden. Die Story, wie sie nie zuvor erzählt worden ist.«
Als der Name seines Bruders genannt wurde, erstarrte Dad, als habe man ihn in Eis gepackt. »Und wer hält Sie davon ab?«, sagte er gequält.
»Sie, Sie sind das. Wir haben die polizeilichen Unterlagen und Medienberichte aus dieser Zeit, aber alle anderen, die dabei waren, sind im Feuer umgekommen. Sie sind der einzige Insider. Wir können es unmöglich ohne Ihre Hilfe machen. Es gibt so viel, was wir nicht wissen.«
»Sind Sie deswegen hier?«
»Ja.«
So also hatte Anouk die beiden Medienmogule dazu bewegt, mit zu uns nach Hause zu kommen und sich die hirnrissigen Ideen meines Vaters anzuhören. Mann, da hatten sie sich aber geschnitten! Wir alle saßen eine ganze Weile in grässlichem, ominösem Schweigen da, und ich fürchtete, Dad könne versuchen, jeden einzelnen Hals im Zimmer umzudrehen. Er schloss die Augen, dann schlug er sie wieder auf. Nachdem einige Minuten verstrichen waren und es offensichtlich wurde, dass Dad kein weiteres Wort sagen würde, sagte Oscar: »Tja, wir gehen dann mal wieder.«
Als sie fort waren, erhob sich Dad von seinem Stuhl, als schwebe er, verließ das Haus und verschwand im Labyrinth. Anouk rannte ihm nach. Ich rührte mich eine Stunde lang nicht vom Fleck, paralysiert von Visionen, in denen mein Vater sich umbrachte oder irgendwas Durchgeknalltes anstellte, das ihn wieder in die geschlossene Abteilung bringen würde, und ich muss zu meiner
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