Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
Vom Netzwerk:
Qual.
    Anouk war zuständig für die Bedienung des einzigen Scheinwerfers, den sie auf der Bühne herumschwenkte, als suche sie einen Ausbrecher, der gerade über die Gefängnismauer klettern wollte. Nach vierzig Minuten hatte ich bereits meine gesamten blitzapokalyptischen Fantasien ausgeschöpft, daher drehte ich mich auf meinem Sitz um und sah mir die Gesichter im Publikum an. Die Gesichter, die ich sah, schienen das Stück gut zu finden. Ich war verwundert. Dann dachte ich tatsächlich, meine Augen würden mir einen Streich spielen: In der letzten Reihe saß, auf der äußersten Stuhlkante und anscheinend begeistert, Oscar Hobbs.
    Ein lautes, unglaubhaftes Lachen eines Schauspielers lenkte mich ab. Es war das schlimmste Bühnenlachen, das ich je gehört hatte, und ich musste einfach sehen, wer das zu verantworten hatte. In den nächsten zwanzig Minuten hing mein Blick wie gebannt an diesem Kleindarsteller - sein aufgesetztes Lächeln, sein schlicht groteskes Augenbrauentheater und dann noch eine ganze Szene mit tränenlosem Schluchzen. Dann war das Stück zu Ende, die Lichter gingen an, das Publikum applaudierte (vielleicht sogar ehrlich), ich ließ den Blick durch den Saal wandern und sah, Oscar Hobbs gerade noch durch die Hintertür verschwand.
    Am nächsten Tag stand erstaunlicherweise eine Kritik der Aufführung in der Zeitung. Alle an der Produktion Beteiligten waren in gleichem Maße verblüfft - ein derart unbedeutendes, schundiges Stück in einem derart verschmuddelten, schäbigen Theater zog normalerweise keine professionellen Kritiker an, sondern eher Obdachlose, die auf einen Teller Suppe hofften, und da die Organisatoren so wenig Vertrauen in sich und ihre Arbeit hatten, hatten sie die Medien gar nicht erst auf sich aufmerksam gemacht. Das Seltsamste und Verdächtigste jedoch war nicht die Rezension an sich, sondern ihr Inhalt - sie befasste sich ausschließlich mit der Ausleuchtung des Stücks: »hochatmosphärisch«, »düster und spannend« sowie »kühn und schattenwerfend«. Alle, die das lasen, waren sich darüber einig, dass ihnen nie etwas Dümmeres unter die Augen gekommen war. Die Schauspieler, der Regisseur und der Autor wurden nicht erwähnt. Anouk war bestürzt, einmal, weil sie von der Kritik herausgestellt worden war, und dann, weil ihre Schauspielkollegen sehr hässlich reagierten, bösartig Front gegen sie machten und ihr vorwarfen, sie habe die Kritik lanciert, einen Journalisten bestochen und »sich mit dem Scheinwerfer in den Vordergrund gedrängt«.
    Anouk war verwirrt, ich nicht. Ich hatte Oscar Hobbs im Foyer gesehen, und dass er hier die Finger im Spiel gehabt hatte, war nicht schwer zu erkennen. Was ich davon hielt? Es war amüsant, mehr nicht. Die Götter können herabsteigen und sich nach einer Sterblichen die Lippen lecken so wie wir anderen auch, oder? Anouk hatte nun mal einen Körper, der die Aufmerksamkeit eines Mannes auf sich lenkte, und Oscar Hobbs war ein Mann wie jeder andere. Wie gesagt, es war amüsant, mehr nicht, und obwohl ich es immer wieder gerne sehe, wenn meine Familie, meine Freunde und mein soziales Umfeld perplex sind, kann ich Geheimnisse trotzdem nicht lange für mich behalten. Also erzählte ich es Anouk noch am selben Abend, als sie gerade ein langes telefonisches Gezeter mit dem Produzenten des Stücks hinter sich hatte.
    »Warum hast du mir nichts gesagt?«, kreischte sie.
    »Hab ich doch gerade.«
    Sie zog das Gesicht zusammen, bis Augen, Nase und Mund nicht größer als eine Mandarine waren. »Was will denn der?«, fragte sie leise.
    Ich zeichnete mit den Händen ihre Körperformen nach und sagte: »Dreimal darfst du raten.«
    »Aber er hat doch zehn Frauen an jeder Hand!«
    »Vielleicht war es irgendwas, das du im Kasino zu ihm gesagt hast. Was hast du denn gesagt?«
    »Nichts.«
    »Na sag schon.«
    »Na schön«, sagte sie. »Ich habe ihm gesagt, auf seiner Seele sei einer dieser Flecken, die bloß verschmieren, wenn man sie wegwischen will.«
     
    Zwei Tage später stand ich während der Arbeitszeit vor der Tür, rauchte mit Smithy, meinem Boss, eine Zigarette, und überlegte mir, dass ich den Job bald loswerden musste und es mir nie verzeihen würde, wenn ich nicht wenigstens zum Abschied meine Arbeitskollegen anschwärzen würde. Ich fragte mich, ob sie eine Hau-ab-und-komm-nicht-wieder-Party für mich schmeißen würden, als ich sah, dass ein Porsche 550 Spyder im Halteverbot parkte. Es war ein Auto wie das, in dem James Dean gestorben

Weitere Kostenlose Bücher