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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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nicht durch den Schredder gejagt. Es steht zu hoffen, dass sie in späteren Jahren als Rarität gehandelt und meistbietend versteigert wird.
     
    Mein Leben. Von Martin Dean
    Geschichte eines Einsamen. Von Martin Dean
    Geschichte eines Verlierers. Von Martin Dean
    Höhnisch währt am längsten. Von Martin Dean
    TITELLOSE  AUTOBIOGRAFIE DES MARTIN DEAN. VON MARTIN DEAN
     

KAPITEL EINS
    Warum diese Autobiografie? Weil es das Privileg meiner Klasse ist. Bevor Sie anfangen zu schreien: Ich spreche nicht von der Arbeiterklasse, dem Mittelstand oder dem gehobenen Mittelstand. Ich spreche vom wahren Klassenkampf: Celebritys gegen die Trottel von nebenan. Und ob es Ihnen passt oder nicht: Ich gehöre zu den Celebritys, und das heißt, es interessiert Sie, wie viele Blatt Toilettenpapier ich benutze, um mir den Hintern abzuwischen, wohingegen es mich nicht im Geringsten interessiert, ob Sie Ihren Hintern abwischen oder nicht. Sie wissen, wie diese Beziehung funktioniert. Tun wir doch nicht so, als wäre es anders.
    Alle Celebritys, die ihre Autobiografien schreiben, verarschen ihre Leser auf dieselbe Weise: Sie erzählen ihnen irgendeine äußerst peinliche Wahrheit über sich selbst, damit sie glauben, sie hätten es mit einer ehrlichen Haut zu tun, und dann werfen sie die Lügenmaschine an. Das werde ich nicht tun. Von mir werden Sie nichts als die Wahrheit hören, selbst wenn ich mir damit einen Ruch wie Guanodünger einhandle. Und nur damit Sie Bescheid wissen: Ich bin mir bewusst, dass eine Autobiografie auch die ersten Jahre meines Lebens behandeln sollte (= Martin Dean wurde dann und dann geboren, ging in Soundso zur Schule, schwängerte versehentlich die und die Frau und so weiter), aber darauf verzichte ich ebenfalls. Was ich vor einem Jahr so alles gemacht habe, geht Sie nichts an. Ich beginne stattdessen mit dem Moment, bevor sich der entscheidende Wendepunkt in meinem Leben ereignete.
     
    Ich war damals einundvierzig, arbeitslos und lebte vom Kindergeld, obwohl ich eines der Elternteile war. Ich gebe zu, das ist nicht der Geist, der dieses Land groß gemacht hat, aber es ist der Geist, der es möglich macht, dass Sie an einem Arbeitstag an den Strand gehen und ihn voller Leute finden. Einmal pro Woche machte ich mich auf dem Arbeitsamt wichtig, indem ich dem für mich zuständigen Sachbearbeiter eine Liste mit den Jobs zeigte, die ich angeblich nicht bekommen hatte, was von Mal zu Mal mehr Energie und Einfallsreichtum erforderte. Ich sage Ihnen, es wird immer schwieriger, keinen Job zu finden. Manche Chefs nehmen einfach jeden!
    Obendrein durchlief ich auch noch diesen demütigenden Alterungsprozess. Wohin ich auch ging, begegnete ich meinen Erinnerungen, und ich hatte dieses mir bestens bekannte, ungute Gefühl, meine Bestimmung verraten zu haben. Ich verschwendete so viele Monate darauf, über meinen Tod nachzudenken, dass er mir irgendwann vorkam wie der Tod eines Großonkels, den ich nicht mal gekannt hatte. Etwa um diese Zeit muss ich auch süchtig nach Radiosendungen mit Liveanrufen von Hörern geworden sein und hörte meist betagten Leuten zu, die eines Tages aus ihren Häusern getreten waren und plötzlich die Welt nicht mehr wiedererkannt hatten, und je länger ich ihrem endlosen Genörgel lauschte, desto mehr kam ich dahinter, dass sie auf ihre Art dasselbe taten wie ich: Sie protestierten gegen die Gegenwart, als sei sie eine Zukunft, die man immer noch ausschlagen könnte.
    Irrtum ausgeschlossen: Ich steckte in einer Krise. Aber die neuesten Paradigmenwechsel im Verhalten verschiedener Altersgruppen erschwerten es mir zu bestimmen, in welcher Art von Krise ich mich befand. Wie konnte es die Midlife-Crisis sein, wenn die Vierziger heutzutage die neuen Zwanziger, die Fünfziger die neuen Dreißiger und die Sechziger die neuen Vierziger waren? Wo verdammt noch mal war ich? Ich musste die Lifestylebeilage der Sonntagszeitung lesen, um mich zu vergewissern, dass ich nicht in Wahrheit die Pubertät durchmachte.
    Wenn das nur das Schlimmste gewesen wäre!
    Mit einem Mal war es mir entsetzlich peinlich, dass ich so albern war, in einem von mir selbst angelegten Labyrinth zu leben. Ich bekam es mit der Angst zu tun, man könnte mich ausschließlich dadurch in Erinnerung behalten, und in gleicher Weise graute mir vor dem Gedanken, man könnte mich womöglich nicht in Erinnerung behalten, im Gegensatz zu meinem verdammten Bruder, über den immer noch geredet und der von meinen Landsleuten immer noch innig

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