Vatermord und andere Familienvergnuegen
kam es so vor, als ob Harry das auch raushätte, als er mit seinem Bein Furchen in den schmutzigen Boden zog. Gott sei Dank setzte er sich auf einen Stuhl uns gegenüber. Als ich ihn von vorne sah, stellte ich fest, dass er einen schrecklich missgebildeten Kopf hatte, wie ein Apfel, aus dem man ein Stück herausgebissen hatte.
»Was kann ich für euch Burschen tun?«, fragte er gut gelaunt.
Terry ließ sich Zeit mit einer Antwort, dann aber sagte er: »Na ja, Sir, meine Freunde und ich haben in der Stadt so eine Gang, wir haben schon ein bisschen Erfahrung mit Einbrüchen und Diebstahl und Straßenkämpfen, die allerdings manchmal auch im Busch äh...« Er verhedderte sich.
Ich sagte: »Die Gang ist jung. Sie ist unerfahren. Sie braucht Anleitung. Sie braucht Ratschläge von jemandem, der schon lange in diesem Geschäft ist. Kurzum, sie braucht einen Mentor.«
Harry saß eine Weile da und dachte darüber nach. Er kratzte an seinem Tattoo. Es wollte einfach nicht abgehen. Er stand auf und ging zum Fenster.
»Verdammter Nebel. Man kann überhaupt nichts sehen. Ihr habt hier eine ganz schön beschissene kleine Stadt, was? Trotzdem würd ich sie gern mal sehen.«
Bevor wir etwas sagen konnten, drehte sich Harry zu uns um und lächelte uns an, was uns den Blick in einen Mund bescherte, in dem jeder zweite Zahn fehlte.
»Jeder, der behauptet, die Jugend hätte keinen Unternehmungsgeist, hat doch seinen Kopf im Arsch stecken! Ihr Jungs gebt mir meinen Glauben wieder! Ich bin im Lauf der Jahrzehnte Legionen von Nachwuchskriminellen begegnet, aber nie hat mich einer um meinen Rat gebeten. Kein einziger. Ich hab noch nie erlebt, dass einer den Mumm gehabt hätte zu sagen: >Ich will was lernen - bring mir was bei.< Nein, die Scheißkerle da draußen machen es sich zu leicht. Die segeln durchs Leben und führen immer nur Befehle aus. Klar, die wissen, wie man ein Bein bricht, aber man muss ihnen sagen, welches. Die wissen, wie man ein Grab aushebt, aber wenn man nicht auf sie aufpasst, graben sie es mitten im Stadtpark, gleich um die Ecke vom Polizeirevier. Verdammt, die würden am helllichten Tage graben, wenn man nicht dabeisteht und brüllt: >Nachts, ihr Schwachköpfe! So was macht man nachts!< Alles Nichtsnutze der übelsten Sorte! Und illoyal! Das könnt ihr euch nicht vorstellen. Wie viele von meinen früheren Kollegen haben mich besucht, seit sie mich in dieses elende Loch gesperrt haben? Nicht einer! Nicht ein Brief! Nicht ein Wort! Und die hättet ihr sehen müssen, bevor sie mir begegnet sind! Da haben sie noch Bettlern das Kleingeld aus dem Hut geklaut! Ich hab mich ihrer angenommen, wollte ihnen zeigen, wo's langgeht. Aber die wollen gar nicht wissen, wo's langgeht! Die wollen nur saufen, Karten spielen und den ganzen Tag mit Nutten rummachen. Ein oder zwei Stunden sind genug, oder etwa nicht? He, habt ihr eigentlich Knarren?«
Terry schüttelte den Kopf. Es hatte den Anschein, als erwärme sich Harry für seine Aufgabe; er hatte viel in sich hineingefressen. Jetzt brach es aus ihm heraus.
»Gut, dann ist das eure erste Mission. Besorgt euch Waffen! Ihr braucht Waffen! Ihr braucht jede Menge Waffen! Und hier gleich eure erste Lektion. Sobald ihr die Waffen habt, bunkert ihr sie in Verstecken überall in der Stadt - in Hinterzimmern von Kneipen, auf Bäumen, in Gullyschächten, in Briefkästen. Denn wenn ihr euch auf eine Kriminellenlaufbahn einlasst, wisst ihr nie, wann eure Feinde zuschlagen. Ihr werdet euer Leben lang immer über eine Schulter sehen müssen. Seid ihr dazu bereit? Ist nicht ganz leicht für den Hals, das könnt ihr mir glauben. Egal, wo ihr hingeht, ins Pub, ins Kino, in die Bank oder zum Zahnarzt, sobald ihr den Raum betretet, stellt ihr euch immer mit dem Rücken zur Wand. Seid vorbereitet. Seid wachsam. Ihr dürft nie irgendwem den Rücken zudrehen, hört ihr? Selbst wenn ihr zum Friseur geht: Seht zu, dass ihr euch immer von vorn die Haare schneiden lasst.«
Harry klatschte seine Hände auf den Tisch und beugte sich zu uns herab.
»So sieht das Leben aus für Leute wie uns. Den Durchschnittsbürger würde so was umhauen, aber wir müssen hart sein und darauf eingestellt, mit dem Rücken zur Wand zu leben, mit offenen Augen und zuckenden Fingern. Nach einer Weile macht man das ganz automatisch. Man entwickelt einen sechsten Sinn. Es stimmt: Paranoia bringt die Menschheit voran. Ich wette, das bringen sie euch nicht in der Schule bei! Präkognition, außersinnliche Wahrnehmung,
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