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Vatermord und andere Familienvergnuegen

Vatermord und andere Familienvergnuegen

Titel: Vatermord und andere Familienvergnuegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Toltz
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Freundschaft zu Caroline. Unsere Gespräche waren das Beste an mir und das Einzige, was ich an meinem Leben mochte, vor allem da Bruno und Dave jeden Nachmittag brennende Zigaretten nach mir schnippten und mir diverse raffinierte Foltern androhten; am besten gefiel mir, dass sie mich lebendig auf einem Hundefriedhof begraben wollten. Allerdings machten sie nie eine Drohung wahr, denn Terry hatte ihnen klargemacht, dass er aussteigen würde, sollte ich auch nur einen Kratzer abbekommen. Die Zwillinge hatten offenbar die richtige Nase. Sie sahen in ihm ein kriminelles Wunderkind: Warum sonst hätten diese beiden Brutalos auf ihn hören sollen? Wenn man sie gefragt hätte, hätten sie vielleicht erklärt, bei ihm sei es die Mischung aus Energie, Sinn für Humor, der Bereitschaft, jedem Befehl zu befolgen, und absoluter Furchtlosigkeit. Egal, was es war, sie fanden es jedenfalls gut, ihn dabeizuhaben, auch wenn sie dafür seinen grüblerischen Bruder in Kauf nehmen mussten, der nichts tat, außer zu lesen. Meine Bücher gingen ihnen wirklich auf die Nerven. Ironischerweise fanden sie mich unmenschlich, weil ich mich derart durch die Bibliotheksbücher fraß.
    »Woher weißt du denn, welches du lesen musst? Wer sagt dir das?«, fragte Dave mich einmal.
    Ich erklärte ihm, dass es da eine Spur zu verfolgen gäbe: »Wenn du Dostojewski liest, erwähnt er Puschkin, also liest du Puschkin. Der erwähnt dann Dante, also liest du Dante, und der...«
    »Ist klar!«
    »Alle Bücher handeln irgendwie von anderen Büchern.« »Ich hab's kapiert!«
    Es war eine endlose Suche, und die war unendlich fruchtbar. Die Toten schickten mich auf eine rasante Reise durch die Zeit und die Jahrhunderte, und während Bruno für meine staunende Verehrung von so etwas Lahmem und Unmännlichem wie einem Buch nur Hohn übrig hatte, weckte das bei Dave Neugier. Manchmal ließ er sich nach einer Schlägerei erschöpft neben mich fallen und sagte mit blutüberströmtem Gesicht: »Erzähl mir, was du da liest.« Und ich erzählte es ihm, hatte dabei immer auch Bruno im Blick, der vor ignorantem Hass glühte. Mehr als einmal riss er meine Bücher in Fetzen. Mehr als einmal saß ich stumm vor Entsetzen da, während eines über die Kante einer Klippe segelte. Lebwohl, Verbrechen und Strafe! Da geht sie hin, Piatos Der Staat! Auch wenn sich die Seiten beim Fall wie Flügel spreizten, fliegen konnten sie nicht.
    Die Jungen verlangten, dass ich beim Lesen immer mit einem Auge Ausschau nach Polizei oder Touristen hielt. Terry drängte mich, um des lieben Friedens willen doch diese kleine Gefälligkeit zu übernehmen, also gab ich nach, obwohl ich einen kläglichen Späher abgab. Ich war zu sehr damit beschäftigt, die Gang zu beobachten und meine Schlüsse daraus zu ziehen. Bruno, Dave und Terry hatten sich die Vorherrschaft in unserer Gegend erprügelt und standen nun unbesiegt, aber gelangweilt da. Sie hatten Großes vor; sie wollten in der Unterwelt aufsteigen - für mich eher ein Abstieg -, wussten aber nicht, wie, und kamen vor Langeweile um, ohne zu wissen, warum. Ich wusste, warum, und hielt es kaum aus, dass mich keiner danach fragte. Nachdem ich den Schuppen meines Vaters durchsucht hatte, hatte ich sogar die Lösung parat.
    Eines Tages ergriff ich, ganz gegen meine Gewohnheit, das Wort und lenkte meinen Bruder damit in eine neue fatale Richtung. »Ich weiß, warum ihr euch langweilt«, erklärte ich. »Er spricht!«, grölte Dave.
    »Stimmt«, sagte Bruno. »Und jetzt halt die Klappe!«
    »Warte mal«, meinte Dave. »Ich will hören, was er zu sagen hat. Also los, du erbärmlicher Scheißhaufen, verrat uns, warum wir uns langweilen.«
    »Ihr habt aufgehört, Neues zu lernen«, sagte ich. Keiner reagierte, also trotzte ich tapfer der Stille und durchbrach sie beherzt. »Ihr habt alles erreicht. Ihr wisst, wie man kämpft. Ihr wisst, wie man stiehlt. Ihr macht tagaus, tagein das Gleiche. Euch fehlt der Ansporn. Was ihr braucht, ist ein Berater. Ihr braucht jemanden aus der Welt des Verbrechens, der euch zeigt, wie ihr die nächsthöhere Ebene erreicht.«
    Alle grübelten über meinen Vorschlag nach. Ich wandte mich wieder meinem Buch zu, tat aber nur so, als würde ich lesen. Ich war zu aufgeregt! Ein warmer Strom durchrieselte meine Adern. Was war das für eine Empfindung? Sie war ganz neu für mich.
    Bruno warf einen Stein nach mir, der nur Zentimeter über meinem Kopf den Baumstamm traf.
    »Sieh dich mal um, Hirni. Wir sind hier nicht in der

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