Vatermord und andere Familienvergnuegen
ihn richtig auf Touren.
Allerdings betrachtete Caroline ihre Umgebung mit nicht ganz demselben Missvergnügen wie ich. Sie entdeckte Anmut in Dingen, die ich einfach nicht wahrnahm. Tulpen in einem Blumentopf, alte Leute, die Händchen hielten, ein unmöglich zu übersehendes Toupet - die kleinsten Dinge konnten sie entzücken. Die Frauen in der Stadt liebten sie heiß und innig. Ständig half sie ihnen, ihre Hüte zurechtzurücken, oder pflückte ihnen Blumen. Aber wenn sie allein mit mir war, war sie anders. Ich begriff, dass ihre Liebenswürdigkeit, die Art, wie sie mit den Menschen umging, ihre Maske war. Und es war eine gute Tarnung, die beste, die es gibt: eine wahre Lüge. Ihre Maske war ein Gewebe aus brüchigen Fetzchen, herausgezupft aus allem, was an ihr schön war.
Eines Morgens entdeckte ich zu meiner Überraschung Terry vor ihrem Haus, der Steine warf, die im Blumenbeet vor den Fenstern landeten.
»Was machst du da?«, fragte ich.
»Nichts.«
»Terry Dean! Hör auf, Steine in unseren Garten zu werfen!«, schrie Caroline aus einem Fenster im oberen Stockwerk.
»Es ist eine freie Welt, Caroline Potts!« »Nicht in China!«
»Was ist hier los?«, wollte ich wissen.
»Nichts, ich kann mit Steinen werfen, wo ich Lust hab.«
»Mag sein.«
Caroline sah vom Fenster aus zu. Sie winkte mir. Ich winkte zurück. Dann winkte auch Terry, nur war sein Winken sarkastisch, falls du dir das vorstellen kannst. Caroline winkte ironisch, was wieder eine ganz andere Färbung hat. Ich fragte mich, was Terry gegen Caroline hatte.
»Gehen wir nach Hause«, sagte ich.
»Noch nicht. Ich will noch ein bisschen mit Steinen werfen.«
»Lass sie in Ruhe«, sagte ich verärgert. »Wir sind befreundet.«
»Ach ja?« Terry spuckte aus, warf die Steine auf den Boden und schlenderte davon. Ich sah ihm nach. Was hatte das alles zu bedeuten? Ich wurde nicht schlau daraus. Natürlich verstand ich damals noch nichts von junger Liebe. Zum Beispiel war mir völlig unbekannt, dass Liebe sich auch in kindischer Aggression und Boshaftigkeit äußern kann.
Etwa um diese Zeit bestieg ich mal wieder den Hügel, um Harry zu besuchen, und auch wenn ich es noch nicht wusste, es sollte mein letzter Besuch werden. Harry saß bereits im Besucherraum und sah mir so erwartungsvoll entgegen, als hätte er bei mir zu Hause im Bett ein Furzkissen versteckt und wollte wissen, ob ich mich schon draufgesetzt hätte. Da ich stumm blieb, sagte er: »Du hast da unten ja ganz schön für Wirbel gesorgt!«
»Wovon reden Sie?«
»Von der Vorschlagsbox. Die sind ausgerastet, was?« »Woher wissen Sie davon?«
»Oh, von hier oben sieht man jede Menge«, sagte er, und seine Stimme tanzte im Dreivierteltakt. Aber das war gelogen. Man sah einen Scheißdreck von hier oben. »Das wird natürlich übel ausgehen, aber du solltest dich deswegen nicht hassen. Aus diesem Grund habe ich dich heute auch hier heraufbestellt. Um dir zu sagen, dass du dir deswegen keine Vorwürfe machen sollst.«
»Sie haben mich nicht herbestellt.«
»Hab ich nicht?«
»Nein.«
»Tja, die Wolken hab ich auch nicht herbestellt, und sie sind trotzdem da«, sagte er und zeigte aufs Fenster. »Ich sag ja nur, mach dich deswegen nicht fertig, Martin. Nichts nagt schlimmer an der Seele eines Menschen als Schuldgefühle.«
»Weswegen sollte ich Schuldgefühle haben?«
Harry zuckte die Achseln, aber es war das vielsagendste Achselzucken, das ich je gesehen hatte.
Wie sich herausstellte, hatte er damit nur allzu recht gehabt: Indem ich etwas derart Harmloses wie einen leeren Kasten gebastelt hatte, lenkte ich das Schicksal meiner Familie ein weiteres Mal in eine äußerst unschöne Richtung.
Es begann etwa einen Monat später, als Terrys Name das erste Mal in der Vorschlagsbox auftauchte.
»Mr. Dean sollte lernen, seinen Sohn an die Kandare zu nehmen. Terry Dean ist unter den Einfluss von jungen Männern geraten, für die es bereits kein Zurück mehr gibt. Aber Terry ist jung. Es ist noch nicht zu spät. Was ihm fehlt, ist ein wenig elterliche Führung, und wenn seine Eltern nicht mit ihm fertig werden, werden wir jemanden finden, der es besser kann.«
Der ganze Saal applaudierte. Für die Leute war der Kasten mittlerweile eine Art Orakel. Da die Vorschläge nicht direkt aus dem Mund ihrer Nachbarn kamen, sondern auf geduldigem Papier standen, zeremoniell aus dem Kasten gezogen und von Jim Brock mit herrischer Stimme verlesen wurden, wurden sie ernster genommen, als sie
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