Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
sonnigen und unbeschwerten Tage geben!
Am Montag ist Heimabend. Die gehen mir mittlerweile leicht von der Hand. Ich nehme mir ein Beispiel an Herrn Ackermanns Unterricht und versuche, die Stunden lebendiger und abwechslungsreicher zu gestalten. Das Leben unseres Führers kennen wir ja inzwischen auswendig. Stattdessen erzähle ich von den »Helden der Bewegung« und vom »Kampf an den blutenden Grenzen des Reiches«. Wir singen viel und spielen lustige Gesellschaftsspiele.
Reise nach Jerusalem
nennen wir jetzt
Reise nach Berlin
. Das war natürlich Franziskas Idee. Nur für
Mauscheln
haben wir kein deutsches Wort gefunden, aber
Blinde Kuh
geht immer.
Am liebsten spielen meine Mädchen Völkerball. Johannas Mutter ist Hausmeisterin in der Kreuzschule und lässt uns bei schlechtem Wetter in die Turnhalle. Sogar Hedwig ist meist pünktlich, und unsere wenig sportbegeisterte Line fängt immer öfter die Bälle. Wenn Franziska mich anerkennend ansieht, weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin.
»Was ist los? Ist was passiert? Ich habe einen Bärenhunger!«, frage ich, als ich am Dienstagmittag nach Hause komme. Mama und Hans warten in Mantel und Jacke auf mich. Hans zieht ein griesgrämiges Gesicht.
»Wir müssen vor dem Essen noch zu
Woolworth
. Da gibt es heute drei Einmachgläser pro Person. Wir haben so viele Äpfel, und bald brauchen wir für die Birnen auch noch Gläser. Solche Mengen haben wir gar nicht. Wir müssen uns holen, was wir kriegen können.«
Wir gehen durch die Wevelinghofergasse zur Salzstraße. In den Schaufenstern einiger kleiner Geschäfte hängen Plakate:
Wegen Einberufung vorläufig geschlossen.
Von weitem sehen wir schon die Schlange vor dem Kaufhaus – nur Frauen und Kinder. Einige haben sogar Stühlchen oder Hocker dabei, weil man wieder mal lange stehen muss.
»O nein«, stöhnt Hans und würde sich am liebsten verdrücken.
»Hiergeblieben!«, sagt Mama und zieht ihn am Ohr zu sich. Nach einer Stunde Geschiebe bis zur Kasse haben wir endlich unsere neun Einmachgläser. Das ging heute Gott sei Dank schnell, obwohl mein Magen anderer Meinung ist. Er knurrt fürchterlich.
Nach dem Essen wollen wir die Äpfel einkochen. Wir sitzen in der Küche am Tisch, ich auf der Eckbank und Mama mir gegenüber auf ihrem Stuhl mit dem roten Kissen. Links stapeln sich die gespülten Einmachgläser, und vor uns liegt ein Berg dicker, grüner Klaräpfel. Wie das duftet! Wir haben noch nicht richtig angefangen, da stürmt Hans herein.
»Wir müssen um vier Uhr Hitlers Rede hören.« Schon schaltet er den Volksempfänger auf der Anrichte an. In voller Lautstärke erklingt Marschmusik. Dann spricht der Reporter.
»Wir sitzen hier auf der Empore des Sportpalastes. Unter uns die tosende Menge der Volksgenossen, die sehnsüchtig und voller Erwartung auf den Führer Adolf Hitler wartet.« Eine Kapelle spielt
Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen,
und die Menge stimmt ein.
»Wie im Gottesdienst«, sagt Mama andächtig. Und dann erfüllt die Stimme des Führers die Küche. Würde man jetzt durch Münsters Straßen gehen, sähe man Menschentrauben vor den Radiogeschäften in der Ludgeristraße oder am Prinzipalmarkt vor dem
Münsterischen Anzeiger
, wo extra ein Lautsprecher für die Übertragungen eingebaut wurde. Wenn der Führer spricht, hören alle zu.
Ich bin enttäuscht, aber ich mag es nicht zeigen. Mein Nachmittag mit Mama ist vorbei, bevor er richtig begonnen hat. Aber hier geht es um Deutschland und nicht um mich. Da darf ich nicht murren. Der Führer befiehlt verstärkte Angriffe auf die Krim und den Kaukasus, um die Bolschewiken von Öl- und Getreidelieferungen abzuschneiden.
Normalerweise hören wir alle Reden des Führers. Und nicht nur, weil wir sie für die Schule kennen müssen. Es gibt aber auch Lehrer, die hören am nächsten Tag alles ab. Und wehe, man weiß nicht über die neuesten Truppenbewegungen und siegreichen Eroberungen Bescheid.
Es ist gut und richtig, wenn der Führer dafür sorgt, dass seine Ideen und Erfolge im Volk verankert sind. Schließlich müssen alle an einem Strang ziehen. Doch heute passt es mir gar nicht! Mein Bruder knufft mich und balanciert gleichzeitig mit seiner Europakarte herum, in die er Stecknadeln steckt, dahin, wo unser siegreiches Heer steht.
Völlig unvermittelt sage ich: »Annas Vater ist gefallen.« Es ist mir so rausgerutscht. Und sofort tut es mir leid, denn ich habe bei meiner Mutter eine empfindliche Stelle berührt. In ihren Augen
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