Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
schimmern Tränen. Schließlich ist ihr Bruder Heinrich im Krieg gefallen.
»Ich weiß«, sagt sie, »ich habe die Todesanzeige gelesen.« Sie greift nach der Zeitung neben sich und blättert. Schließlich faltet sie eine Doppelseite auf, und ihr Finger fährt suchend über das Blatt. Fast alle Anzeigen haben das Eiserne Kreuz in der linken Ecke.
»Wo ist sie denn noch gleich? Es sind so viele«, murmelt Mutter. »Hier! Da ist sie ja.«
Und da steht es:
Am
20
. Juli fiel im Kampf mein lieber Mann, unser lieber Vater, Sohn, Onkel, Schwager und Neffe. Alfons Stürmer. Feldwebel. Getreu seinem Fahneneid kämpfte er als begeisterter und tapferer Soldat schon im Westen und auf dem Balkan. Er starb nun im Alter von
38
Jahren den Heldentod für Führer, Volk und Vaterland. In tiefer, stolzer Trauer.
Bei Anna hat sich das anders angehört.
Mama sagt: »Das ist immer traurig. Aber ohne Opfer geht es nicht.«
»Redet doch nicht immer dazwischen. Ich verstehe ja kein Wort!« Hans ist genervt.
»Dann drehe doch noch lauter, bis der Kasten platzt.« Ich bin dankbar für die Ablenkung.
Hans sieht mir tief in die Augen. »Wir müssen das hören. WIR MÜSSEN! Kapiert?« Als die Übertragung endet, dreht er das Radio ab und verschwindet mit seiner Europakarte in sein Zimmer. Dort wird er mit bunten Nadeln, die er in die Karte steckt, den neuen Frontverlauf markieren.
Ich bin endlich wieder mit Mama allein. Die Hälfte der Äpfel ist geschält und geviertelt.
Plötzlich stupst Mama mich an. »Paula, ich habe noch eine Überraschung für dich. Es ist bald so weit: In zwei, drei Wochen ziehen wir um. Endlich kommen wir raus aus dem zerbombten Viertel.«
»Was? So bald schon?«, rufe ich überrascht. »Da müssen wir anfangen zu packen.«
»Papa wollte erst ganz sicher sein, dass wir das Haus bekommen.«
»Und?«, frage ich neugierig. »Wie ist es?«
»Ach, Paula, du wirst staunen. Es ist ein tolles Haus am Servatiiplatz, Ende Salzstraße. Ich habe es mir heute Vormittag angesehen.« Sie sieht mich freudestrahlend an.
»Warst du schon drin?«
»Nein, da wohnen noch Leute.« Meine Mutter zögert: »Die müssen erst noch ausziehen.«
»Ja, klar«, sage ich. »Habt ihr es gekauft?«
»Papa erledigt heute noch die Formalitäten, und dann gehört es uns. Aber den Grundriss habe ich schon gesehen. Stell dir vor, wir werden einen Salon haben. Vielleicht bekomme ich ja irgendwann einen Flügel. Dafür wäre jetzt Platz.«
»Na toll, dann muss ich noch mehr abstauben«, stöhne ich.
Sie lacht. »Unterm Dach gibt es ein großes Zimmer. Das sollst du haben.«
»Und Hans?«
»Keine Sorge, das Haus hat viele Zimmer …«
Ich lehne mich zurück, schaue zur Decke hoch. Ein köstlicher Dampf steigt aus dem Apfelmustopf. Ich atme tief ein, und ein Gefühl von wohliger Geborgenheit umhüllt mich. Ich kenne nicht viele Mädchen, die in tollen Häusern wohnen. Franziska vielleicht, sie wohnt in einer Villa am Aasee. Aber bei ihr war ich noch nie zu Hause. Und Mathilda natürlich. Bei der Vorstellung, ein Zimmer wie Mathildas zu haben, seufze ich dankbar. Da geht die Haustür. Mein Vater kommt heim. Damit ist unser gemeinsamer Mutter-Tochter-Nachmittag endgültig vorbei.
»Oh, hier duftet es vielleicht gut.« Er kommt in die Küche und streichelt Mama liebevoll über den Kopf. »Darf ich mal naschen?«
Ich lasse die beiden allein, nicht ohne meinen Vater vorher zu umarmen und ihm zu sagen, wie sehr ich mich auf das neue Haus und mein Zimmer unterm Dach freue. Die beiden lächeln sich an, und ich beschließe, eine Runde um die Promenade zu radeln.
»Schau dir das Haus mal an.«, ruft Mama mir nach. »Du kennst es, es ist das mit dem breiten Kiesweg. Und komm nicht so spät zurück.«
Es sieht nach Regen aus. Der Himmel ist grau, und im Westen hängen schwarze Wolken. Zum Servatiiplatz ist es nicht weit. Ich glaube, es sind nicht einmal fünf Minuten. Wie lange bin ich nicht mehr um die Promenade gefahren? Sind das wirklich schon zwei Wochen? Ich kann es kaum glauben. Sie hat sich verändert. Bei den letzten Angriffen hat sie ordentlich was abgekriegt. Baumstümpfe ragen aus dem Boden, verbrannte Bäume liegen auf den Blumenrabatten, und ich muss einige Bombentrichter umfahren.
Dann stehe ich vor unserem neuen Haus! Wie oft bin ich schon daran vorbeigefahren, ohne es wirklich wahrzunehmen. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, wir könnten hier einmal wohnen – in einer Villa, ebenso schön wie die der Schuberts. Versteckt
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