Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
seltsamerweise ihre Möbel dalassen. Aber mein Vater winkt ab. »Vielleicht brauchen sie dort, wo sie hingehen, ihre Sachen nicht mehr.«
Eigentlich will ich ihn fragen, wohin die Leute ziehen und warum sie dort, wo sie hingehen, keine Möbel brauchen sollten. Aber ich tue es nicht. Schließlich möchte ich keine Spielverderberin sein. Mama wiederholt immer nur, was wir für ein Glück haben, dass es das Schicksal gut mit uns meint und dass wir uns das redlich verdient haben.
Wirkliche Sorgen macht uns die Tatsache, dass es kaum noch etwas zu kaufen gibt. Vor allem Lebensmittel werden knapp. Ohne unser Stück Land draußen bei Kinnebrock wären wir aufgeschmissen. In den Jahren zuvor waren die »Eintopfsonntage«, mit denen man das Winterhilfswerk unterstützte, freiwillig. Nun werden sie zur Pflicht und Notwendigkeit. Sie werden sogar wie Feiertage im Kalender verzeichnet.
Mama lässt sich immer neue Rezepte einfallen: Sauerkrautnudeln, Gemüsegulasch, Möhrenpuffer, sogar Kartoffelpudding gibt es. Die Rezepte haben eines gemeinsam: Sie sind ohne Fleisch. Fleisch wird immer knapper, und die Fleischsorten, die reichlich vorhanden sind, mag ich überhaupt nicht. Immer wenn es Lungenklöße, gebackene Schweineschwänze oder falsche Schnitzel aus Herz gibt, habe ich überhaupt keinen Appetit. Ich bin nur froh, wenn mein Vater nicht mit am Tisch sitzt. Denn bei ihm heißt es immer: Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt – und zwar alles! Mama drückt schon mal ein Auge zu und hat immer noch ein paar Pellkartoffeln extra. Die esse ich gerne mit Apfelmus, das Gericht heißt
Himmel und Erde
.
Heute Nachmittag ist Gruppenstunde. Alles ist vorbereitet, und die Hausaufgaben sind erledigt. Also schaue ich eine Weile den Kindern zu, die auf der Promenade zu Abzählversen Seil hüpfen.
»Ich bin ein armes Mädchen, hab ganz zerriss’ne Schuh und angestrickte Strümpfe, was kann ich denn dazu. Mein Schatz hat blonde Locken, und ich hab blondes Haar. Und wenn wir Hochzeit feiern, dann gibt’s ein blondes Paar.«
Otti, die Tochter von Schreinermeister Heitkamp, ist aufs Seil getreten. Sie muss ausscheiden.
Ich gehe in Frau Leopolds kleinen Laden an der Ecke Wevelinghofergasse. Dort kaufe ich mir Himbeerbonbons in spitzer Sternchentüte, einen Pfennig das Stück, und verlasse den Laden. Sinnierend bleibe ich vor dem Schaufenster stehen. Ein Porträt Hitlers steht vor einer Hakenkreuzfahne.
Führer, wir leben für dich!
lese ich auf einem Plakat in der ungelenken Handschrift Frau Leopolds. Das sieht nach tiefer Verehrung für den Führer aus. Wahrscheinlicher aber ist, dass Frau Leopold nicht weiß, womit sie ihr Schaufenster dekorieren soll. Die Waren werden immer knapper und die Versorgung mit Lebensmitteln erst recht.
Manchmal fahre ich zu unserem Geheimbriefkasten. Ich warte auf Nachricht von Mathilda. Ich habe mein Wort gegenüber meinem Vater gebrochen, habe aber kein schlechtes Gewissen mehr. Warum auch? Einige Male bin ich am Haus der Schuberts gewesen. Vergebens. Es sieht alles so aus wie immer, aber niemand öffnet die Tür. Wirkliche Sorgen mache ich mir nicht. Vielleicht rede ich mir das aber auch nur ein. Ich bin ganz ruhig und lasse mir nichts anmerken. Was kann ich schon tun?
Ich bin eine gute Beobachterin geworden. Oft treibe ich mich wie zufällig in der Nähe der Judenhäuser herum. Vierzehn gibt es davon in Münster. Eines ist ganz in der Nähe von Mathildas Zuhause, ein anderes in der Adolf-Hitler-Straße und eines in einer Seitenstraße der Sonnenstraße. Seit dem 1. September dürfen Juden den Wohnort nicht mehr verlassen. Juden dürfen nur noch in Häusern wohnen, die Juden gehören.
Mein Vater sagt jetzt:
Die Judenpolitik macht Fortschritte. Die Maßnahmen greifen.
Ich beobachte die Menschen, die in den Judenhäusern ein und aus gehen, doch ich erkenne niemanden. Die Menschen dort sehen nicht glücklich aus. Sie wirken abgehetzt und ausgezehrt. Mathilda oder ihre Mutter treffe ich dabei nicht. Eigentlich habe ich das auch nicht erwartet. Als ob der Familie eines arischen Arztes etwas passieren würde! Doch nicht bei uns! Und solange ich Mathilda hier nicht sehe, ist alles in Ordnung. Was gehen mich all die Juden an?
Ich pfeife das Lied vom schönen Westerwald. Wenn ich pfeife, geht es mir prima. Pfeifen befreit von schweren Gedanken. Die steigen mit den Tönen in die Luft. Aber meine Mutter schimpft immer, wenn ich pfeife.
»Mädchen, die pfeifen, und Hennen, die kräh’n, denen soll
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