Vaters Befehl oder Ein deutsches Mädel
verschwunden, und ich habe auch nicht nach ihr gesucht. Warum interessiert dich das?«
»Ach, nur so. Übrigens fällt mir auf, wie gut du in letzter Zeit deine Sache machst. Du bist wirklich auf dem besten Weg zur Scharführerin. Mensch, ich wünschte mir so sehr, dass du mich in Berlin besuchen könntest. Stell dir vor, wir beide vor dem Brandenburger Tor oder der Reichskanzlei. Vielleicht sogar im Sportpalast.«
Herr Ackermann hat die Pausenaufsicht. Er bemerkt uns und grüßt lächelnd.
»Was hat der bloß immer zu grinsen?«, zischt Franziska ganz nah an meinem Ohr.
Nachmittags üben wir in einer Extragruppenstunde Lieder für das große Fest. Wir wollen die Lieblingslieder unseres Führers zweistimmig vortragen. Das hört sich voller und gekonnter an.
»Und denkt daran«, ermahne ich die Mädchen in dieser letzten Gruppenstunde vor dem Festtag, »die Blusen müssen picobello gebügelt sein. Keine Falten, klar? Also strengt euch an!« Unser Liedervortrag wird perfekt sein, und Emmy hat sogar ein Büchlein geschrieben:
Gedichte und Gebete für den Führer.
Ja, ich habe schon eine tolle Truppe! Da muss doch die ein oder andere Auszeichnung für unsere BDM -Gruppe abfallen. Davon bin ich fest überzeugt! So gehen wir auseinander.
Ich fahre nach der Gruppenstunde noch am Briefkasten vorbei. Endlich eine Nachricht von Mathilda.
Lass uns uns am Dienstag gegen
17
Uhr hier treffen. Bitte! Lenchen
.
Es ist wieder nur ein abgerissener Zettel, aber das ist mir egal. Ich bin so froh! So lange habe ich nichts mehr von ihr gehört.
Ja! Ich werde da sein. Fundevogel.
Ich schiebe den Zettel in das schwarze Loch.
Mit Hans im Schlepptau bin ich am Samstag pünktlich am Zwinger. Für solche Aktionen ist der immer zu haben. Dann muss er Mama wenigstens nicht helfen, sein Zimmer zu entrümpeln und Umzugskisten zu packen. Werner ist da, und er hat sein HJ -Fähnlein mit drei weiteren Bollerwagen dabei. Wir teilen die Gruppen ein und laufen zu dritt oder viert in alle Himmelsrichtungen. Franziska, Werner, Hans und ich ziehen unseren Bollerwagen über die Promenade in das Kreuzviertel. Immer wieder müssen wir umgestürzten oder verbrannten Bäumen ausweichen. Wassergefüllte Bombentrichter versperren uns den Weg. Auf der Kanalstraße räumt der Arbeitsdienst ein Trümmergrundstück. Ein Bagger lädt Schutt auf offene Lastwagen.
Wir biegen in die Ferdinandstraße ein und klingeln gleich am ersten Haus.
Rosensträter
steht auf dem Klingelschild. Es dauert eine Weile, bis sich die Tür öffnet. Im Treppenhaus ist es dunkel und zugig. Fensterscheiben sind inzwischen echte Mangelware. Die Fensteröffnungen sind notdürftig mit Platten aus Pressholz vernagelt, und eine einsame Glühbirne wirft ein spärliches Licht auf den Treppenaufgang. Überall liegt Staub, und abgeplatzter Putz bröckelt von den Wänden.
Ein nachlässig gekleideter Mann steht in der Wohnungstür und sieht uns aus müden Augen unter schweren Lidern an. Er trägt eine schwarze Hose, und ein Zipfel seines Hemdes hängt über dem Hosenbund. Die Hosenträger baumeln lose von seinen Schultern. Der Mann geht barfuß. Ich denke, er ist betrunken. Sein Gesicht ist grau und unrasiert.
Wir grüßen: »Heil Hitler!« Werner schlägt zackig die Hacken zusammen.
Der Mann hebt müde die Hand und sagt: »Lasst mal gut sein.«
Werner drängt sich vor. »Das ist eine nationalsozialistische Entrümpelungsaktion. Wir sammeln Brennmaterial für ein Gedenkfeuer. Sie wissen schon, der Polizeipräsident Mennecke geht nach Riga. Haben Sie noch Schmutz- und Schundliteratur?«
Der Mann lacht bitter. »So, so, Schundliteratur sucht ihr. An was habt ihr da gedacht?«
»Bücher von undeutschen Autoren wie Karl Marx, Heinrich Mann, Erich Kästner, Sigmund Freud …« Franziska zählt die Namen auf wie aus der Pistole geschossen.
»Kästner«, unterbricht der Mann, »Erich Kästner? Ja, ich glaube, damit kann ich dienen.« Er dreht sich um und schlurft langsam zurück in seine Wohnung. Wir schauen uns an.
Hans sagt: »Ich glaube, der tickt nicht richtig.«
Dann hören wir die klatschenden Geräusche von Büchern, die auf einen Tisch oder auf den Boden geworfen werden. Mit einem Bücherstapel auf dem Arm kommt er zurück und überreicht sie Hans.
»Was? So viele? Warum haben Sie die denn nicht schon längst abgegeben?«, fragt Franziska.
Ich stoße sie an. Was soll das? Sie sieht doch, dass der Mann etwas seltsam ist.
»Ach«, sagt Herr Rosensträter, »das sind nicht
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